Von der dritten Welle überrollt

In Portugal greift die Angst vor der sich ausbreitenden britischen Virusvariante und der Zukunft um sich

  • Ralf Streck, Lissabon
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Stimmung in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon ist so trist wie das Wetter. Dunkle Wolken ziehen vom Atlantik kommend über die Stadt, die sich nun fest in der Hand der aggressiveren britischen Coronavirus-Variante befindet. Der Besucher hat das Gefühl, als läge ein Angstschleier über einem stillen Zentrum. Regenschauer vertreiben die wenigen Menschen, die sich noch in der gespenstisch wirkenden Innenstadt aufhalten. Dass seit Mitte Januar wieder ein verschärfter Lockdown herrscht, Homeoffice Pflicht ist, macht sich hier besonders bemerkbar.

Krankenwagen, die mit heulenden Sirenen in Richtung überlasteter Krankenhäuser fahren, weisen auch optisch und akustisch stets auf die gravierende Lage hin, in der sich Portugal und Lissabon im Besonderen befindet. Das Land ist weltweit der Hotspot mit der höchsten Sieben-Tage-Inzidenz pro 100 000 Einwohner und Lissabon weist mit knapp 2000 sogar fast die dreifache Inzidenz des Landesdurchschnitts auf.

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»Ich habe Angst«, erklärt die Brotverkäuferin Isabel Andrade. Auch sie hat sich nun die teureren FFP2-Masken zugelegt, hinter der sie noch schwerer als hinter der Operationsmaske zu verstehen ist. Sie verweist auf 300 Tote täglich und die Tatsache, dass die aggressivere britische Variante des Virus häufiger auch jüngere Menschen wie sie ins Krankenhaus bringt. Sie hofft, dass die bessere Maske sie in einem der wenigen Läden schützt, die im Zentrum geöffnet sind. »Ich bin ja froh, weiter Arbeit zu haben«, sagt sie angesichts steigender Arbeitslosigkeit. Es wäre ihr aber nicht unlieb, nun ins Heer der Kurzarbeiter übernommen zu werden, um zu Hause bleiben zu können. Offiziell waren im Dezember gut 400 000 Arbeitslose gemeldet, 30 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. Real ist die Zahl viel höher, meinen Experten. Da nur etwa ein Drittel auch Arbeitslosengeld erhalte, würden sich viele nicht melden. Laut Eurostat war die Quote im November 2020 auf nur 7,2 Prozent angestiegen.

Die Beschäftigten von Leonardo Coelho befinden sich nun wieder in Kurzarbeit. Der nette ältere Herr betreibt unweit der Bäckerei eine Pension. Letzte Woche wurde sie wieder geschlossen. »Ich hatte nur noch einen Gast«, sagt er. Dass sich das nicht rechnet, liegt auf der Hand. Er und seine Leute haben aber das Glück, dass der Staat die Lohnkosten und auch die Sozialleistungen der Betriebe übernimmt, denen die Umsätze um 75 Prozent eingebrochen sind. Die Lage ist damit deutlich besser als die in Spanien, wo Kurzarbeiter nur 75 Prozent des Lohns erhalten und auch Kleinunternehmer die Sozialversicherungsanteile bezahlen müssen. »Unter solchen Bedingungen hätte ich schließen müssen«, meint Coelho. Er weiß aber nicht, wie lange er noch durchhalten kann, schließlich laufen andere Kosten weiter. Er hofft nun auf direkte Staatshilfe. Im Haushalt 2021 sind 375 Millionen Euro als Unterstützung für Künstler, das Hotel- und Gaststättengewerbe und andere vorgesehen.

Die Lage für die, die am Tourismusgeschäft hängen, ist schwer. Nackte Zahlen der portugiesischen Statistikbehörde beschreiben das Drama. So sind im vergangenen Jahr die Zahl der Touristen und die der Übernachtungen im Vergleich zu 2019 um mehr als 60 Prozent eingebrochen. Bei den Übernachtungen ist das Land mit einem Schlag um fast 30 Jahre in die Vergangenheit katapultiert worden. Eine niedrigere Zahl wurde zuletzt 1993 verzeichnet.

António hat dagegen längst existenzielle Probleme. Der Taxifahrer verlor schon im ersten Lockdown den Job. »Meine Lage ist sehr schwierig«, sagt er. »Meine Frau ist sehr krank«, fügt er an. Er könnte nicht einmal arbeiten, wenn es Arbeit gäbe. »Ich stehe vor dem Nichts«, erklärt er in der Einrichtung der Vereinigung für soziale Aktivitäten im Stadtteil des 2. Mai. Seit acht Monaten kommt er täglich in die Halle, einst ein Pferdestall des nahe gelegenen Königspalasts, um für sich und seine Frau Essen zu bekommen, das hier an bedürftige Menschen ausgegeben wird. »Hier wird uns sehr geholfen«, sagt er, und kann Tränen dabei kaum zurückhalten. Seine Lage wäre noch verzweifelter, würde er hier nicht unterstützt. Er hätte sonst vor der Frage gestanden: Essen oder Miete bezahlen und damit eine Räumung riskieren.

Der Taxifahrer fragt die Leiterin der Vereinigung, ob er etwas mehr bekommen könne, da nun auch noch sein Sohn seine Stelle verloren habe und er nun wieder bei den Eltern wohne. Die kleine Daniela Freitas schaut ihn mit ihren ausdrucksstarken braunen Augen an, reicht ihm etwas mehr Obst über den Tisch, da die täglich frisch gekochten Mahlzeiten abgezählt sind. »Teile deine neue Situation der Behörde mit, damit auch dein Sohn in die Liste aufgenommen wird«, erklärt ihm die junge Frau. Sie hält die Liste mit den Menschen hoch, denen nach Prüfung die Versorgung zugestanden wurde.

Auch sie fürchtet sich vor einer Ansteckung. Freitas trägt eine OP-Maske über der FPP2-Maske. Ein Schutzschirm vor dem Gesicht schützt sie zusätzlich. Sie wechselt sich mit einer Kollegin an verschiedenen Tagen hier ab, damit sie nicht zusammentreffen und plötzlich beide Leiterinnen wegen einer Infektion ausfallen. Denn ihre Arbeit nehmen die Beschäftigten hier sehr ernst. Schließlich werden allein am Stadtrand von Lissabon 54 Familien, deutlich mehr als 200 Menschen, täglich mit dem nötigen Essen versorgt.

Gekocht wird in einer Küche, die zur Kindertagesstätte gehört, denn das ist die eigentliche Aufgabe der Vereinigung. Doch auch sie wurde im Lockdown geschlossen und dient jetzt als Basis für die Lebensmittelhilfe. »Im Stadtteil gibt es noch eine Tageseinrichtung von uns für alte Menschen«, fügt die quirlige Projektleiterin an. Dort habe man schon im ersten Lockdown im März begonnen, Essen zu kochen und zu verteilen. Hier habe man etwas später begonnen, als die Not immer größer wurde.

Alte oder kranke Menschen, die selbst nicht mehr das Essen abholen können, werden über Essen auf Rädern beliefert. Bezahlt werden Löhne, Essen und Ausgaben von der Stadtverwaltung, die diese Aufgabe an Vereinigungen wie diese hier abgegeben hat. Eingekauft wird in einem Großmarkt, Fisch und Fleisch wechseln sich im Speiseplan ab, um eine ausgewogene Ernährung zu gewährleisten. Als Vorspeise gibt es wie üblich eine Gemüsesuppe. Hier kommen weder Lebensmittelspenden noch freiwillige Helfer zum Einsatz, erklärt Freitas. Das ist anders als bei Tafeln der katholischen Kirche, die man zudem in vielen Stadtteilen findet. Es sollen Arbeitsplätze erhalten oder geschaffen werden. Die Kindergärtnerin Candida Pereira wurde deshalb im Lockdown nicht nach Hause geschickt. Sie hilft nun bei der Organisation und verteilt Essen. »Daheim würde mir nur die Decke auf den Kopf fallen«, meint sie.

»Die Armut, der Hunger haben sich massiv ausgebreitet«, sind sich Freitas und Pereira einig. Mehr als 3000 Familien würden allein in Lissabon in Einrichtungen wie hier mit Essen versorgt. Ein Gang durch die Stadt zeigt, dass auch Obdachlosigkeit massiv zunimmt. António oder Eugenia hätten sich vor einem Jahr nicht einmal im Albtraum ausgemalt, dass es auch sie treffen könnte. Die Familie der Altenpflegerin Eugenia zählte sich eher zur Mittelschicht, worauf auch der schicke Kleinwagen hinweist, mit dem sie hier in der Sackgasse vorfährt, um ihre Nahrungsmittel bei der Vereinigung abzuholen. »Alles ging sehr schnell«, sagt sie. »Ich bin an den Handgelenken operiert worden und kann nun meinen Beruf nicht ausüben«, sagt sie. Dramatisch wurde die Situation der sechsköpfigen Familie, zu der inzwischen eine Enkelin gehört, als der Mann in der Pandemie seine Stelle in einer Diskothek verlor.

Irgendwann war der Anspruch auf Arbeitslosengeld weg und damit wurde die Not groß. In der Kältewelle im Januar habe das Geld nicht mehr gereicht, um die Wohnung zu heizen. Dass die Mehrwertsteuer auf Strom gesenkt und die Regierung zehn Prozent der Rechnung übernimmt, sei zwar schön, aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

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António und Eugenia hoffen nun auf ein mit dem neuen Haushalt beschlossenes Sozialgeld, um ihre Lage etwas zu verbessern. 250 000 Familien sollen bis zum Jahresende unterstützt werden, die sich in einer Lage wie sie befinden. Diese außerordentliche Stütze soll das Familieneinkommen um bis zu 501 Euro aufstocken. Es gilt rückwirkend ab dem 1. Januar, die genaueren Bedingungen wurden aber erst jetzt veröffentlicht. Da es »sehr knapp« bemessen sei und über viele Kriterien etliche Menschen ausgeschlossen würden, war ein Grund dafür, dass der Linksblock (BE) die Maßnahme und den Haushalt abgelehnt hat. BE-Führungsmitglied Marisa Matias kritisierte im nd-Interview die Politik der sozialdemokratischen Regierung unter António Costa von der Partido Socialista als viel zu zaghaft. Vor der Zukunft haben Menschen wie António und Eugenia Angst. Sie hoffen aber, dass sich mit den Impfungen bald auch die ökonomische Situation wieder bessert und ein Licht am Ende des Tunnels sichtbar wird, das sie bisher wie viele Portugiesen nicht sehen.

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