Sorge, Sinn - der Umgang mit Krankheit

Wilhelm Schmid über die Befreundung mit den anderen Seiten des Lebens

  • Wilhelm Schmid
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Dass Gesundheit ein kostbares Gut sein kann, wissen am besten die Kranken, und schon diese Erfahrung macht einen Wert des Krankseins aus. Eine lebenspraktische Unterscheidung lautet so: Der Gesunde hat tausend Wünsche, der Kranke hat nur einen, nämlich wieder gesund zu werden. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat Gesundheit so definiert: reibungsloses Funktionieren des Organismus, Wohlgeordnetheit der Psyche. Krankheit wäre dann: mangelndes Funktionieren, gestörte Ordnung. Leider ist damit eine Abwertung der Krankheit verbunden, die problematisch sein könnte. Und kann es wirklich eine störungsfreie Ordnung geben? Wie viel Störung braucht eine Ordnung, um gut funktionieren zu können?
Dass es so widersprüchliche Phänomene wie Gesundheit und Krankheit überhaupt gibt, bringt womöglich ein Bedürfnis des Lebens nach Polarität zum Vorschein, wie es in vielen Bereichen erkennbar ist. Die Polarität aufheben zu wollen, hätte dann nicht nur den Charakter der Vergeblichkeit an sich, sondern brächte auch fragwürdige Konsequenzen mit sich: Wenn etwa Krankheit eliminiert würde, wäre wohl keineswegs reine Gesundheit die Folge.
Das Heilsame der Krankheit liegt nicht zuletzt darin, sich über das eigene Leben und darüber, dass es einen letzten Tag haben wird, klarer zu werden. Die Krankheit ist ein Vorlaufen zum Tod - und eine Rückkehr ins Leben, wenn sie dazu führt, sich wieder mit den als wesentlich erkannten Dingen des Lebens zu befassen.
»Lehrjahre der Kunst zu leben« sah Novalis darin, der Romantiker, der sein ganzes kurzes Leben fast nur krank war. Er sprach sogar von einer »Kunst«, die Krankheit »zu benutzen«, etwa zur Inspiration und zur persönlichen Reifung. Und noch einer, der wusste, wovon er sprach, war Friedrich Nietzsche: Er war bereit, in der Krankheit ein Medium der Erkenntnis und der Veränderung zu sehen. Denn was Leben ist, lässt sich in dieser Grenzerfahrung am besten erkennen, und was die erforderlichen Veränderungen angeht, so kann die Krankheit am ehesten zu ihrem Katalysator werden, da sie den Menschen ohnehin aus seiner bisher gelebten Existenz herauskatapultiert.
Vor allem Nietzsches Begriff der großen Gesundheit ist für die Lebenskunst brauchbar, denn damit ist eine Gesundheit gemeint, die, wie Nietzsche sagt, »der Krankheit selbst nicht entraten mag«. Zur Gesundheit gehört nun auch, krank sein zu können und dies noch als Element der Gesundheit zu verstehen. Diese Einbeziehung der Krankheit ins Leben steht der reinen »Lehre von der Gesundheit« entgegen, die auf den Ausschluss von Krankheit zielt. Dies hat nicht nur Bedeutung für das Leben des Individuums, sondern auch für die Gesellschaft, die den kränklichen Individuen ihre Sensibilität verdankt: Mit ihrer übergroßen Empfindsamkeit erspüren sie früher als andere einen gefährlichen Weg, den die Gesellschaft einschlägt. Nicht Gesundheit und Lust, sondern meist erst Krankheit und Schmerz führen Menschen zum Überdenken des Lebens und zu tieferen Einsichten ins Leben.
Der entscheidende Gegensatz aber ist nicht der zwischen Gesundheit und Krankheit. Beide werden zwar gewöhnlich als Gegensatzbegriffe verwendet, die sie aber nicht in jedem Fall sind, da es Überschneidungen zwischen ihnen gibt. Es kann krank machen, immer nur gesund sein zu wollen. Es kann demgegenüber ein Aspekt von Gesundheit sein, krank zu werden - und so die Chance zu bekommen, sich selbst (wieder) die Aufmerksamkeit widmen, derer man bedarf, um ein pflegliches Verhältnis zu sich zu begründen, und die Selbstfreundschaft zu suchen, die den inneren Zusammenhalt stärkt.
Der entscheidende Gegensatz ist derjenige zwischen gesunder Sorge und ungesunder Sorglosigkeit im Hinblick auf sich selbst und das eigene Leben. Für die Lebenskunst im Zustand der Gesundheit wie auch für den Umgang mit Krankheit ist die Sorge des Selbst um sich von großer Bedeutung.
Eine philosophische Gesprächsführung, wie ich sie selbst an einem Krankenhaus pflege, kann den Sinn haben, im Dialog die Sorge um sich anzuregen. Seit Sokrates ist das so, und auch ein Arzt kann das als Teil seiner Aufgabe verstehen. Ein Philosophieren, das zur Sorge anleitet, leistet »Lebenshilfe«, jedoch nicht im unmittelbaren Sinn, sondern im Sinne sokratischer Geburtshilfe: Das ans Tageslicht zu befördern, was in einem Menschen selbst bereits verborgen liegt. Wie die Erfahrung zeigt, kann das bloße Gespräch schon Wunder bewirken. Der Gesprächspartner erfährt die Aufmerksamkeit, die ihm fehlte, die Zuwendung, die er entbehrte. Beflügelt durch Aufmerksamkeit, bietet das Gespräch vor allem einen Anlass zur Selbstaufmerksamkeit. Nichts machen Menschen lieber, als »ihre Geschichte« zu erzählen: Das ist die häufigste Grundlage für das Gespräch. Damit wird die entscheidende Arbeit an der inneren Festigkeit geleistet, am inneren Immunsystem, das zur Gesundheit beiträgt.
Lebenskunst beruht auf der Übernahme der Selbstsorge. Ohne Selbstsorge keine Lebenskunst. Die Sorge durchbricht die Gleichgültigkeit, die jeder Lebenskunst, vielleicht dem Leben überhaupt feind ist. Natürlich ist die Sorge keine Norm, der man unbedingt Genüge tun müsste; grundsätzlich kann man dem Leben gegenüber durchaus gleichgültig bleiben, man sollte lediglich früh genug die Kosten kennen, die dies mit sich bringen kann: Ein nicht gelebtes Leben, Verbitterung über das verschenkte Leben, vermutlich zu einem Zeitpunkt, an dem nicht mehr viel zu korrigieren ist, Rachegefühle gegenüber Anderen, bei denen das Leben vermutet wird, das einem selbst entgangen ist.
Das Ziel der Selbstsorge wiederum ist der Gewinn von Selbstfreundschaft, ohne jedes schlechte Gewissen, dass es sich dabei um Kultivierung der »Selbstsucht« handle, denn wer mit sich selbst nicht befreundet ist, soll heißen: wer sich selbst nicht mag, der kann auch Andere nicht mögen, geschweige denn ihr Freund sein.
Selbstfreundschaft beruht zuerst auf einer körperlichen Sorge um sich, so lässt sie sich auch am besten erlernen: Der eigene Körper ist modernen Menschen oft fremd geworden, er wird missachtet und »ausgebeutet«. Aber er ist die Grundlage des menschlichen Lebens. Seine neuerliche Aneignung begründet ein gefühlvolles und überlegtes Verhältnis zu ihm, wie es für eine Freundschaft typisch ist: Der einzelne Mensch geht eine verantwortliche Bindung mit seinem Körper ein.
Die Aneignung umfasst jedoch dessen angenehmen Seiten ebenso wie seine unangenehmen Seiten: Wohlsein, Freuden, Lüste, Begierden, Gesundheit ebenso wie Unwohlsein, Ängste, Schmerzen, Verletzungen, Krankheit.
Ferner die seelische Sorge um sich, die mit inneren Widersprüchen und widersprüchlichen Gefühlen zu tun hat: Gegensätzliche Seiten im Selbst können sich trotz allem miteinander befreunden und eine kreative Spannung aus dem Verhältnis zueinander beziehen: Etwa das Denken und Fühlen, sich widerstreitende Gedanken und Gefühle wie Furcht und Neugierde, Hoffnung und Enttäuschung, Liebe und Hass, Zärtlichkeit und Zorn, Souveränität und Ängstlichkeit, der Freiheitsdrang und das Bedürfnis nach Bindung, die männliche und weibliche Seite in ein und demselben Selbst.
Selbstfreundschaft heißt auch, mit den eigenen Launen sich zu befreunden, die nicht übergangen werden können: In ihnen kommen momentane Gedanken, Gefühle, Wünsche und Ängste zum Ausdruck, die, jeweils ein Ich für sich, das gesamte Selbst für sich allein in Anspruch nehmen wollen, ganz wie die Kinder, die die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu erzwingen versuchen. Für die Gesundheit als Lebenskunst ist die Sorge um die Seele von besonderer Bedeutung, wenn es wahr ist, dass die Seele starken Einfluss auf die Verfassung des Körpers ausübt.
Und die geistige Sorge: Ins Blickfeld kommt damit das »Geistige«, das Gedankliche und Begriffliche. Das ist neben der Prägung von Begriffen für das, was an Erfahrungen zu machen ist, auch die Klärung von Begriffen, mit denen hantiert wird, als verstünden sie sich von selbst, wie etwa »Leben«, »Glück«, »Sinn« ... Begriffe können in die Irre führen, sie können krank machen und man kann gesunden an ihnen, je nach ihrer Definition. In Begriffen steckt, über das bloße Wort hinaus, ein Vorverständnis, ein Konzept, eine Vorstellung, eine Idee davon, was etwas ist oder sein soll und welche Bedeutung ihm zukommt.
Entscheidender als die Realität kann diese Idee sein, die von ihr im Umlauf ist, ja die Idee kann ursächlich für eine Realität sein, etwa im Falle einer Neuorientierung des Lebens. Begriffe bergen Eigenschaften in sich, die ihnen zugeschrieben werden, ohne dass jemals jemand darüber nachgedacht hätte, die aber vielleicht auch noch anders zu beschreiben wären; Wahrheiten, die auch anders wahr oder von Grund auf falsch sein können. Das jeweils herrschende Verständnis ist nur eine Möglichkeit unter anderen. Die Lebenskunst besteht darin, nicht zum Gefangenen von Begriffen mit angeblich »allein gültigen« Bedeutungen zu werden. Etwa in Bezug auf »das Leben«. Was versteht ein Mensch darunter? Wie »ist« das Leben? Wie soll das Leben sein? Was stellt er sich unter dem »Sinn des Lebens« vor? Menschen orientieren sich in ihrem Leben in hohem Maße an ihrem Begriff des Lebens und sind sich doch kaum je dessen bewusst.
Was einen Menschen gesund hält, was ihn, wenn er krank ist, heilt, was eine Krankheit lebbar macht, sind die Kräfte des Körpers, der Seele und des Denkens dieses Menschen selbst. Vor allem der geistige Aspekt des menschlichen Lebens fand im bisherigen Verständnis von Gesundheit und Krankheit, das über den Körper hinaus allenfalls noch die Psyche mit einbezog, wenig Berücksichtigung. Im Geist aber, im Denken des Menschen, formieren sich Überlegungen etwa zum Sinn des Lebens, die großen Einfluss auf Körper und Seele haben können.
Der Sinn ist teils vorzufinden, teils erst herzustellen. Sinn, das ist Zusammenhang, Sinnlosigkeit demzufolge Zusammenhanglosigkeit. Wenn Sinn Zusammenhang ist und wenn er als solcher Halt zu vermitteln vermag, dann muss die Abwesenheit von Zusammenhängen zwangsläufig zur Erfahrung von Sinn- und Haltlosigkeit führen. Das gilt in verschiedenster Hinsicht: Jede Beziehung, die Menschen zueinander pflegen und die einen Zusammenhang zwischen ihnen stiftet, erfüllt sie offenkundig mit »Sinn« und gibt ihnen Halt. Dass Menschen in wachsendem Maße nach Sinn fragen, ist ein Zeichen der modernen Zeit, die ein Prozess der Befreiung ist, Befreiung von allen möglichen Bindungen und Beziehungen, also von Zusammenhängen.
Diesem Teil der Freiheit, der Freiheit von etwas, korrespondiert aber ein anderer Teil der Freiheit, der Freiheit zu etwas, zur Neubegründung von Bindungen und Beziehungen, also Zusammenhängen, nun jedoch aus freien Stücken. Das ist die Arbeit, die bevorsteht, und die, so sie geleistet wird, die Moderne nicht als dieselbe belassen wird. Es ist die Arbeit, Sinn wieder herzustellen, in allen Bereichen des Lebens.
Neben den sozialen aber sind es ökologische Zusammenhänge, die sinnstiftend wirken: Die gefühlte Verbindung mit der Natur, deren Sichtbarkeit und Erfahrbarkeit birgt seit jeher sehr viel Sinn in sich. Menschen suchen Trost in der Natur, um wieder »Kraft zu schöpfen«, und es ist in der Tat die sinnlich erfahrbare Natur, die die Erfahrung von Sinn vermitteln kann, da in ihr offenkundig alles mit allem zusammenhängt. Sinn umfasst schließlich gedachte, geistige Zusammenhänge, zu denen in besonderem Maße »teleologische« Zusammenhänge gehören, also die Orientierung des Lebens an einem Ziel, einem Zweck, aber auch die Frage danach, wozu diese Krankheit »gut« sein kann.
Es geht dabei um eine Kunst der Deutung und Interpretation, die Sinn zu erkennen und dem Leben Sinn zu geben vermag. Und zuletzt die über das endliche Leben hinausgehenden, gefühlten und gedachten transzendenten Zusammenhänge: Sie sorgen für den weitestmöglichen Horizont, in den das eigene Leben eingebettet werden kann, oft mit »Spiritualität« und »Religiosität« in Verbindung gebracht.
Auch wenn niemand diese Fragen endgültig beantworten kann, so ist es doch bedeutsam, für sich selbst eine plausible Antwort darauf zu finden, mit der sich leben lässt und äußerstenfalls das Leben auch zu Ende gebracht werden kann, jedenfalls dieses Leben.
Sinn ist hilfreich, um mit Krankheit umzugehen. Sehr vieles kommt darauf an, ob der Krankheit ein Sinn gegeben werden kann, denn in ihr die blanke Sinnlosigkeit zu sehen, blockiert die heilenden Kräfte, die der Sinn freisetzen kann. Kräfte, um sich vielleicht klarer werden zu können, was wirklich Leben ist: die Polarität von Gesundheit und Krankheit, Lust und Schmerz, von Abgründigkeit des Lebens (dass alles, was gewiss erscheint, ungewiss ist) und demgegenüber wohltuende Vertrautheit etwa von Gewohnheiten.
Vor allem das Schöne stiftet Sinn und ist offenkundig unverzichtbar für das Freiwerden heilender Kräfte. Man kann es auch das Bejahenswerte nennen. Bejahenswert kann keineswegs nur das Angenehme, Lustvolle oder, wie es im ausgehenden 20. Jahrhundert gerne genannt wurde, das »Positive« sein. Sondern auch das »Negative«, Krankheit, Schmerz und Leid - weil es zu tiefen Einsichten führen kann. Entscheidend ist, ob das Leben insgesamt als bejahenswert erscheint.
Lebenskunst ist der Versuch zur Realisierung eines schönen Lebens in diesem Sinne.

Wilhelm Schmid lebt in Berlin und lehrt außerplanmäßige Philosophie an der Universität Erfurt. Tätigkeit als »philosophischer Seelsorger« in einem Krankenhaus bei Zürich. Neuestes Buch: »Glück - Alles, was Sie darüber wissen müssen und warum es nicht das Wichtigste i...

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