SS erprobte Giftmunition an Häftlingen

Buch über das Krankenrevier des KZ Sachsenhausen enthält alle Texte einer Schau in der Gedenkstätte

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 3 Min.
Zirka 1000 Exponate auf rund 800 Quadratmeter Fläche zeigt die Ausstellung »Medizin und Verbrechen«, die sich mit dem Krankenrevier im KZ Sachsenhausen beschäftigt. Damit ist die Dauerausstellung in den originalen Baracken die mit Abstand größte auf dem Gedenkstättengelände. Die Ausstellung wurde Ende 2004 eröffnet. Jetzt liegt ein Buch vor, das alle Texte und die meisten Fotos dieser Schau enthält und es ermöglicht, daheim noch einmal gründlich nachzulesen. Die erste Krankenbaracke wurde 1936 eingerichtet. Die schrittweise Erweiterung des Reviers erfolgte bis in die 40er Jahre hinein. Häftlinge zu heilen, hatten die SS-Ärzte zu keinem Zeitpunkt im Sinn. Es ging vor allem darum, Seuchen einzudämmen, die auch den Wachmannschaften gefährlich werden konnten. Außerdem diente das Revier zu Propagandazwecken. Es gehörte zu jenen Bereichen des Lagers, die Besuchern bei Führungen gezeigt worden sind. Als 1942 sich die Blitzkriegsstrategie als gescheitert erwies, erwachte das Interesse der SS-Spitze dafür, die Arbeitskraft leicht erkrankter Häftlinge wieder herzustellen, um diese Menschen weiter in der Rüstungsindustrie ausbeuten zu können. Doch die entsprechende Direktive wirkte sich kaum auf die menschenverachtende Handlungsweise der SS-Ärzte aus, stellen die Autoren klar. In dem Buch sind sehr unterschiedliche Aspekte aus der Geschichte des Konzentrationslagers dargestellt, die mal mehr und mal weniger mit dem Revier zusammenhängen. Nachzulesen sind die Biografien von Patienten, Pflegern und Häftlingsärzten, aber auch die Lebenswege von Tätern wie SS-Obersturmführer Dr. Hugo Heinz Schmick. Beschrieben finden sich Selektionen für den Abtransport zur Tötung in Sonnenstein und Bernburg ebenso wie die Kastration homosexueller Männer, die sich für den Eingriff freiwillig melden mussten, was durch Quälereien erzwungen und durch Versprechungen auf Haftentlassung erwirkt wurde. Zu den Verbrechen der SS-Ärzte gehören Menschenversuche, die dazu dienten, Mittel gegen Giftgas zu finden, Gelbsucht-Infektionen zu erforschen, weil die Wehrmacht ein Interesse daran hatte, oder die Wirkung von Aufputschmitteln zu untersuchen, die es den Matrosen von Zwei-Mann-U-Booten ermöglichen sollten, vier Tage ohne Schlaf zu operieren. Am 11. September 1944 schoss die SS auf dem Industriehof des KZ fünf Häftlingen in die Beine, um Giftmunition zu erproben, die angeblich für einen geplanten Anschlag auf Stalin bestimmt war. Es starben alle fünf - wahrscheinlich waren es sowjetische Kriegsgefangene. Mehr weiß man nicht über die Opfer. Die SS nutzte das Krankenrevier auch als Haftlazarett für Verschwörer des 20. Juli, die Selbstmordversuche nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler überlebt hatten. Geschildert wird das Schicksal des Hans von Dohnanyi, der schon vor dem 20. Juli 1944 inhaftiert war, doch im Zusammenhang mit dem Hitler-Attentat nach Sachsenhausen gebracht und schließlich dort hingerichtet wurde. In dem Buch dokumentiert sind nicht nur die Bestialitäten der Nazis, sondern auch Beweise für den Widerstand und die Solidarität von Häftlingen. Eingesperrte Mediziner wie der Russe Viktor Brashnikow oder der Pole Bogdan Wroblewski versuchten nach Kräften, die Leiden ihrer Kameraden zu lindern. Der als Gehilfe in der Lagerapotheke eingesetzte deutsche Kommunist Hans Rosenberg beschaffte dafür Medikamente und Geräte. Astrid Ley, Günter Morsch: »Medizin und Verbrechen - Das Krankenrevier des KZ Sachsenhausen 1936-1945«, Metropol, 416 Seiten (brosch.), 22 Euro, ND-Buchbestellservice: (030) 29 78 17 77

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