Nachholbedarf bei Kinderrechten

Mehrheit ist laut Studie des Kinderhilfswerks unzufrieden mit dem Stand der Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland

  • Lisa Ecke
  • Lesedauer: 4 Min.

»Neun von zehn Kindern sagen, dass ihre Interessen von der Politik nicht gesehen werden. Das ist sehr eindeutig und ernüchternd und muss endlich aufrütteln«, stellt Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerks (DKHW), fest. Dem am Freitag veröffentlichten Kinderreport des Kinderhilfswerks zufolge wollen zudem 94 Prozent der Kinder und Jugendlichen und 84 Prozent der Erwachsenen, dass die Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden. Dies wird seit Jahren diskutiert und politisch immer wieder aufgeschoben.

Seit 1992 gilt in Deutschland die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die unter anderem vorsieht, dass das Kindeswohl bei allen staatlichen Entscheidungen, die Kinder betreffen, vorrangig berücksichtigt werden muss. Zudem sollen Kinder und Jugendliche nicht nur im Alltag, sondern auch bei politischen Entscheidungen beteiligt werden. Doch auch dies sieht die Mehrheit der Befragten nicht als gegeben an. In der repräsentativen Umfrage sprechen sich viele für mehr Kinder- und Jugendparlamente in den Städten und Gemeinden aus. Die Schaffung eines Ständiges Beirats für Kinder- und Jugendbeteiligung bei der Bundesregierung, in dem Mädchen und Jungen selbst vertreten sind, halten 80 Prozent der Minderjährigen und 66 Prozent der Erwachsenen für sinnvoll.

»Man muss sich wirklich fragen, was man tun kann. Es ist ja nicht so, dass es in den letzten Jahren gar keine Bemühungen gegeben hätte, die Meinung von Kindern und Jugendlichen aufzunehmen«, sagt DKHW-Chef Hofmann im Gespräch mit »nd«. Gleichzeitig habe die Corona-Pandemie gezeigt, dass ihre Interessen »sehr spät oder auch gar nicht« wahrgenommen werden. »So hätten in politischen Runden beispielsweise neben Ärztinnen und Ärzten auch Kinder eingeladen werden müssen«, findet Hofmann. Es brauche aber auch vor Ort feste Strukturen, in denen sie sich politisch beteiligen können.

Unzufrieden sind viele Menschen auch mit der Infrastruktur. Beispielsweise sähen viele Kinder Defizite in Sachen Mobilität, »vor allem Kinder und Jugendliche in den ländlichen Räumen, die sehr stark auf diese angewiesen sind«, sagt Hofmann. »Wenn öffentlicher Nahverkehr kaum vorhanden ist, können sie all das, was sie gerne tun würden, nicht machen.« Auch mit Angeboten für die Kinder- und Jugendarbeit sehe es teils schlecht aus: »Bei finanziell knappen Kommunen wird oftmals zuerst bei den Angeboten für Kinder und Jugendliche gespart. Das darf nicht sein.«

Fast alle für den Kinderreport befragten Mädchen und Jungen sehen in zu geringen Einkommen den Hauptgrund für die hohe Kinderarmutsquote in Deutschland. Außerdem sind 85 Prozent der Ansicht, dass es hierzulande Kinderarmut gibt, weil sich Politikerinnen und Politiker um dieses Problem zu wenig kümmern. 84 Prozent denken, dass eine mangelnde Unterstützung der Alleinerziehenden, beispielsweise finanziell oder durch Kinderbetreuung, ein Grund für die verbreitete Kinderarmut ist. Dass sich Deutschland mehr Unterstützung für arme Kinder nicht leisten kann, glauben hingegen nur 30 Prozent. 

84 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen sowie 78 Prozent der Erwachsenen sprechen sich für eine zusätzliche Besteuerung sehr hoher Einkommen aus. Rund zwei Drittel der Minderjährigen wollen die Streichung von Staatsausgaben an anderer Stelle, etwa bei der Verteidigung, in Straßenbau oder Wirtschaftsförderung. Bei den Erwachsenen befürwortet dies nur rund die Hälfte.

Die politischen Maßnahmen gegen Kinderarmut würden von einer Mehrheit als unzureichend angesehen, erläutert Hofmann die Ergebnisse der Befragung. »Eine Forderung, die klar im Mittelpunkt steht, ist die ausreichende finanzielle Absicherung über eine Kindergrundsicherung.« Eine solche hat sich die Ampel-Regierung auf die Fahnen geschrieben. Nach den Vorstellungen von SPD, Grünen und FDP sollen alle Kinder ab der Geburt einen Grundbetrag erhalten. Außerdem soll es einen nach dem Einkommen der Eltern gestaffelten Zusatzbetrag geben. Ein Teil der zahlreichen familienpolitischen Leistungen soll so gebündelt und das Geld unbürokratischer ausgezahlt werden. Doch bisher ist offen, wie hoch Grundbetrag und Zuschläge sein sollen.

Die Ergebnisse zeigten auch, so Hoffmann, dass es »viele Eltern trotz Einkommen – also nicht im Bereich von Hartz IV – nicht schaffen, ihre Kinder ausreichend auszustatten. Das ist ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft.« Vier von fünf Erwachsenen sind der Meinung, dass Schulsystem nicht dafür geeignet ist, Kindern aus armen Elternhäusern einen guten Bildungsabschluss zu verschaffen.

Malu Dreyer (SPD), Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, sprach sich während der Vorstellung des Reports in Berlin unter anderem für die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre aus, »um die Teilhabe junger Menschen an der politischen Willensbildung zu stärken«. Auch Heidi Reichinnek, kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, warb dafür. Kinder und Jugendliche hätten massiv unter der Coronakrise gelitten. Sie spürten, »was in unserem Land falsch läuft, und benennen den Handlungsbedarf«, erklärte Reichinnek am Freitag. DKHW-Präsident Thomas Krüger konstatierte, die Anliegen von Kindern und Jugendlichen würden oft schlichtweg ignoriert oder nur nachrangig berücksichtigt. »Sollte sich dieser Trend nachhaltig bestätigen, steht unsere Gesellschaft vor einer Zerreißprobe.«

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