Lernen mit Lenin

Beim Berliner Marx Is' Muss Kongress sind sich viele Teilnehmer einig, dass die Linke kämpferischer werden muss

  • Ramon Schack
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Marx Is' Muss Kongress in Berlin war gut besucht.
Der Marx Is' Muss Kongress in Berlin war gut besucht.

Ein junger Rollstuhlfahrer ist aus Aachen angereist. »Ich zahle 410 Euro für die Unterkunft, drei Tage in einem barrierefreien Hotel. Meine Eltern haben mich dabei unterstützt, sonst hätte ich mir das niemals leisten können. Ich freue mich, mal wieder in Berlin zu sein.« Angesprochen auf seine politische Motivation, an dem Marx Is› Muss Kongress am Wochenende im Gebäude am Franz-Mehring-Platz in Berlin-Friedrichshain, in dem auch die Redaktion des nd sitzt, teilzunehmen, gibt der junge Mann, der sich als SPD-Mitglied zu erkennen gibt, den Kampf gegen Rechts an. In seinem Wohnviertel, ein sozialer Brennpunkt, hätten bei der vergangenen Landtagswahl mehr Menschen AfD als SPD gewählt. Immerhin sei es ihm gelungen, neulich einen Gast aus seiner Stammkneipe von der AfD zur SPD hinüberzuziehen, erwähnt er lachend.

Wer Christine Buchholz noch aus Studentenzeiten kennt, als sie ihre politischen Aktivitäten an der Universität Hamburg begann, stellt schnell fest, dass die vergangenen Jahrzehnte ebenso spurlos an ihr vorbeigezogen scheinen wie die zwölf Jahre im Bundestag, dem sie bis zum September vergangenen Jahres angehörte. Gerade referiert sie zu dem Thema »Was macht die Bundeswehr eigentlich in der Sahelzone« ebenso leidenschaftlich wie in den späten 1990er Jahren, als sie für die Zeitung »Linksruck« agitierte beziehungsweise für die Thesen des gleichnamigen Netzwerkes, das später in der Bewegung Marx21 aufging. Das Netzwerk, eine trotzkistische Organisation innerhalb der Linkspartei, ist Organisatorin des Kongresses.

Der Seminarraum ist gut gefüllt, mit einem überwiegend jungen, akademischen Publikum, welches die Konferenz dominiert. Neele, eine 19-jährige Auszubildende der Gesundheits- und Krankheitspflege, ist aus Hannover angereist und schreibt die Ausführungen von Buchholz mit. »Wenn mein Vater wüsste, wo ich hier bin, der würde mich ohrfeigen! Ich komme aus einem Arbeiter-Haushalt, Papa wählt AfD, meine Mutter ist völlig unpolitisch, deshalb haben mich meine Eltern auch kein Abitur machen lassen. Ich sollte nach der 10. Klasse abgehen, um Geld zu verdienen. Deshalb verstehe ich nicht alles, versuche aber, es mir anzueignen. Ich glaube kaum, dass viele der Genossinnen und Genossen hier so was erlebt haben, die meisten stammen doch aus akademischen Elternhäusern.«

Neele pustet sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, während Christine Buchholz von ihrer Zeit im Bundestag spricht, von Dienstreisen in die Sahelzone. Die Krankenpflegerin erzählt, dass sie durch ihren Freund politisiert wurde, er neben ihr sitzt. Der 23-jährige Achmed studiert Medizin und ist schon länger bei Marx21 engagiert. »Achmed hat mir die Augen geöffnet, gab mir Trotzki, Lenin und Marx zu lesen«, schwärmt Neele, während auf dem Podium über Auslandseinsätze der Bundeswehr diskutiert wird. »Wenn Du mich fragst«, so Neele, »beginnt Klassenkampf in Krankenhäusern. Denn nirgendwo sonst sind die Widersprüche und die Gebrechen des Kapitalismus spürbarer.«

Wenige Minuten später ist das Seminar beendet und die Teilnehmer haben den Raum verlassen. Christine Buchholz sortiert noch einige Papiere. Der Ventilator brummt. Die ehemalige religionspolitische Sprecherin ihrer Fraktion hat kürzlich bekannt gegeben, dass sie für den Parteivorstand der Linken kandidiert: »100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, Grundgesetzänderung, Kampfdrohnen – diese Entscheidungen der Ampel brauchen unseren entschlossenen Widerstand.« Buchholz lässt ihren Blick in Richtung Fenster schweifen: »Wir leben in einer Zeit verschärfter imperialistischer Konkurrenz. Es wäre fatal, wenn die Linke als Antwort auf Wladimir Putins mörderischen Krieg ihre Kritik an der Expansionspolitik der Nato, an der Einsatzorientierung der Bundeswehr sowie der Aufrüstung infrage stellen würde. Mobilisierung gegen Krieg, Waffenlieferungen und Aufrüstung ist ein Beitrag zur Deeskalation. Unter dem Krieg leiden zuerst die Menschen in der Ukraine. Aber auch in Russland, im Globalen Süden und in Deutschland sind die Folgen von Krieg und Eskalation spürbar. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Inflation die Einkommen auffrisst und die Armut vergrößert.« Auf das Motto der Konferenz angesprochen, betont Buchholz mit Nachdruck die Aktualität des Werkes von Karl Marx und hält es für notwendig, mit marxistischen Theorien die aktuelle Weltlage zu analysieren.

Fabian war zwei Jahre jung, als die Mauer fiel. In der DDR geboren, wuchs der 35-jährige Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik auf. Fabian steht an einem der Büchertische, welche von den Veranstaltern errichtet wurden und auf denen größtenteils verlagseigene Werke angeboten werden. Fabian blättert in dem Buch »Krieg im Osten« von Klaus Henning und meint, »Lenins Imperialismus-Theorie ist doch von beklemmender Aktualität«. Fabian wünscht sich eine kämpferische Linke, die bereit ist, innerstädtische Szeneblasen zu verlassen, um auch in Ostdeutschland auf dem Lande wieder Akzeptanz zu finden. Der junge Mann geht nicht davon aus, dass seine Meinung aktuell mehrheitsfähig ist, stellt aber im Freundes- und Bekanntenkreis fest, dass die von Medien und Politik völlig einseitig gezeichnete Sicht auf die Ereignisse in der Ukraine zu bröckeln beginnt.

Zakhar Popovich ist als Diskussionsteilnehmer zur Konferenz gereist. Der Ukrainer aus Kiew, ein Sozialwissenschaftler und Mitbegründer linker Organisationen, lebt seit Kriegsbeginn im polnischen Kraków. Popovich, der innerhalb der linken Szene nicht unumstritten ist, kritisiert die ukrainische Regierung heftig, plädiert aber gleichzeitig für die Lieferung schwerer Waffen, um die militärische Niederlage der Russen herbeizuführen. Er selbst möchte an diesen Kämpfen nicht teilnehmen, denn er plant eine Übersiedlung in die USA, um dort seine akademischen Studien fortzuführen. Diese Positionen von Popovich werden nicht von den Veranstaltern der Konferenz geteilt.

Barbara F., eine wissbegierige Endfünfzigerin, war Mitglied der SED und der PDS. »Mir ist heute, mehr als 30 Jahre nach dem Ende der DDR bewusst, dass der Kapitalismus keine Zukunft hat«, sagt sie. Barbara kam nach der Wende über mehrere Umwege zunächst zur SAG, der sozialistischen Arbeitergruppe, aus der später »Linksruck«, dann Marx21 wurde. Das Studium der Werke Trotzkis hat ihr die Aufarbeitung der DDR-Geschichte sowie deren Scheitern ermöglicht. In letzter Zeit habe sie sich allerdings etwas zurückgenommen, da auch bei Marx21 eine nach ihrer Meinung zu starke Betonung identitätspolitischer Fragen stattgefunden habe.

Als am Sonntagabend die Party beginnt, auf die sich ein Großteil der Gäste schon lange freut, kommt dem Beobachter angesichts der jugendlichen Dynamik ein Zitat von Leo Trotzki in den Sinn, welches er in seinem Testament formuliert hatte: »Das Leben ist schön. Die kommende Generation möge es reinigen von allem Bösen, von Unterdrückung und Gewalt und es voll genießen!« Es ist aber bekannt, dass es sich dabei nur um eine Momentaufnahme handelte.

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