Genozid oder Ökozid?
Streit unter Wissenschaftlern über den Untergang der Osterinsel-Kultur
Jeder kennt sie, hat zumindest Bilder gesehen von den riesigen Steinfiguren auf der kleinen, baumlosen Insel am anderen Ende der Welt. Viele der überdimensionierten Köpfe mit den kantigen Kinnladen, kräftigen Nasen und leeren Augenhöhlen tragen einen mächtigen Zylinder aus rotem Tuffstein. Über 400 von ihnen säumten die Küste der Osterinsel, weitere 400 liegen unvollendet in einem Steinbruch. Die größte aufgestellte Figur ist zehn Meter, die meisten sind zwischen vier und sechs Meter hoch und zehn Tonnen schwer, die größte unfertige misst 21 Meter. Längst nicht alle Rätsel um den Sinn dieser Moais genannten Monumente sowie um Leben und Untergang der Hochkultur, die sie schuf, konnten Wissenschaftler bisher entschlüsseln. Die Osterinsel wurde frühestens um das Jahr 1200 von Polynesiern besiedelt. Die zu Hochzeiten geschätzten 15 000 bis 20 000 Inselbewohner hatten also nur etwa 500 Jahre Zeit, mit primitiven Werkzeugen die fast 900 stummen Zeugen ihrer zugrunde gegangenen Kultur herzustellen, zu transportieren und aufzustellen, wie Radiokarbon-Datierungen zeigen. Mitte des 19. Jahrhunderts fanden Besucher sie schließlich umgestürzt und zerbrochen, die wenigen Insulaner krank und hungernd. Dabei zeigen Pollenanalysen, dass die Insel bei Ankunft der ersten Siedler von einem Urwald mit den größten Palmen der Welt bedeckt war. Sie wurden abgeholzt, um die Statuen zu transportieren, um Kanus und Häuser zu bauen sowie um die Toten zu verbrennen. Heute ist die Osterinsel fast baumlos. Daher wird sie gerne als Symbol für die Selbstzerstörung einer prosperierenden Kultur durch Ausbeutung ihrer endlichen Ressourcen herangezogen. »Die Osterinsel war im Pazifik so isoliert wie die Erde im Weltraum«, schreibt Jared Diamond, der dem Aufstieg und Untergang, von ihm Ökozid genannt, dieser Kultur in seinem Buch »Kollaps« 50 Seiten widmet. Das 163 Quadratkilometer große Inselchen liegt 2200 Kilometer von der nächsten Nachbarinsel und 3700 Kilometer vom chilenischen Festland entfernt. In den Anfängen der Umweltbewegung der 1970er und 1980er Jahren sei »der "Niedergang und Verfall" der Osterinsel und ihre angebliche Selbstzerstörung« nach Ansicht des britischen Anthropologen Benny Peiser das Vorzeigekind einer Umweltschützer-Geschichtsschreibung gewesen. Peiser und andere halten die Ökozid-These für Unsinn. Und so soll sich die Geschichte abgespielt haben: Zunächst trieben die Rapa Nui, wie sich die Osterinsulander selbst nennen, Ackerbau und ernährten sich von den in den Küstengewässern vorhandenen Fischen, den zahlreichen einheimischen Vögeln, mitgebrachten Hühnern und Ratten. Mit dem Aufkommen des Moai-Kultes und der steigenden Einwohnerzahl, wurden immer mehr Bäume abgeholzt, um immer mehr und größere Skulpturen zu transportieren sowie um Ackerboden zu gewinnen. Irgendwann um das Jahr 1600 wurde der letzte Baum gefällt, der Ackerboden erodierte, die Nahrung wurde knapp. Es konnten keine Boote für Fischfang oder Flucht mehr gebaut werden, man begann, sich um die restlichen Ressourcen zu bekriegen. Peiser und Paul Rainbird, Archäologe an der University of Wales, sagen, die Geschichte von der Selbstzerstörung des Volkes auf der Osterinsel sei ein bloßer Mythos. Rainbird hat alle Aufzeichnungen des holländischen Handelsseglers Jakob Roggeveen gesichtet, der am Ostersonntag 1722 die Insel erreichte und als erster über sie berichtete. 100 Jahre nach dem angeblichen Zusammenbruch hat dieser keinerlei Anzeichen einer Krise entdeckt. »Roggeveen berichtet von üppigen Feldern mit Süßkartoffeln, Yamswurzeln und Rohrzucker«, erläutert Rainbird. Die Menschen seien gesund und stark gewesen, hätten keinerlei kriegerisches Verhalten gezeigt. Waffen seien keine zu sehen gewesen, notierte der Kapitän. Zahlreiche Quellen zeugen laut Peiser von schier unbegrenztem Vorkommen an Fisch und Meeresfrüchten in den Küstengewässern, von fruchtbarem Ackerboden, Hühnern im Überfluss und unzähligen Ratten. Roggeveens Offizier habe von ganzen Wäldern von Toromirobäumen berichtet, die er in der Ferne gesehen habe. Diese seien erst im 19./20. Jahrhundert ausgerottet worden. Allerdings untersuchte Roggeveens Mannschaft nicht die ganze Insel. Noch 1786 fand eine französische Expedition »eine beträchtliche Bevölkerung mit mehr Schönheit und Anmut als auf anderen Inseln und einem Boden, der mit sehr wenig Arbeit die Einwohner im Überfluss ernähren kann«. Doch nicht alle Besucher waren freundlich. Ab 1805 landeten immer wieder Schiffe vor den Küsten, entführten die Bewohner als Sklaven, Matrosen oder Walfänger, vergewaltigten und verschleppten Frauen. Bei diesen Überfällen kamen zahlreiche der sich wehrenden Einwohner ums Leben. Ab 1830 berichteten Walfänger, dass die Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten wie Syphilis zur chronischen Gefahr auf der Insel geworden sei. 1862 schließlich wurden bis zu 1500 Osterinsulaner als Sklaven nach Peru verschleppt. Nur rund 100 davon kamen auf internationalen Druck hin frei. Doch die brachten die Pocken mit. Das kostete weitere Tausend Insulaner das Leben. Als 1877 der französische Anthropologe Alphonse Pinart die Insel betrat, fand er nur noch 111 Einheimische und eine Schaffarm. Die Rapa Nui blieben auch nach der Annektion der Osterinsel durch Chile im Jahre 1888 bis 1966 ohne Bürgerrechte. »Was auch immer in der Vergangenheit auf der Osterinsel geschehen ist, was auch immer die Insulaner selbst ihrer Insel angetan haben, wird total bedeutungslos angesichts der Auswirkungen, die der Kontakt mit den Weißen hatte«, betont Rainbird. »Das ist eine Version von Rousseaus Mythos vom Edlen Wilden», widerspricht Diamond in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Science (Bd. 317, S. 1692); »die Behauptung, alle schlechten Dinge auf der Osterinsel geschahen erst mit Ankunft der Europäer«. Die Osterinsel sei vor dem Eintreffen der Europäer auf Grund ihrer einzigartigen ökolo...
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