Spuren und ein Verdacht
Zur Seele: Erkundungen mit Schmidbauer
»Nun wird im Umfeld der Familie ermittelt.« Mit dieser Umschreibung reagierten die Medien auf die Meldung, dass in dem Ferienappartement Blutspuren entdeckt wurden, aus dem die dreijährige Madeleine McCann entführt worden sein soll. Die Ärzte Kate und Gerry McCann hatten in einer dramatischen Aktion nach ihrer Tochter suchen lassen. Der Papst empfing die katholischen Eltern; prominente Sportler appellierten an die »Entführer«, im Wallfahrtsort Fatima beteten Hunderttausende. Die Eltern sammelten Geld, um ihre Tochter zurückzukaufen; Prominente (wie die Autorin der Harry-Potter-Romane Joanne K. Rowling) spendeten. Insgesamt waren fünf Millionen Euro zusammengekommen. Und jetzt der Verdacht, dass Madeleine nicht entführt wurde, sondern ihr Leichnam in dem Appartement lag und die Eltern eine besorgte Show geboten haben? Noch sind alle Fragen offen. Der Absturz von Kate und Gerry McCann in der Mediengunst ist ähnlich kritisch zu sehen wie ihr steiler Aufstieg. Vermutlich werden sie jetzt mit demselben Übereifer verurteilt, der sie zum Event gemacht hat. Immerhin eröffnet sich nun ein Weg zur psychologischen Reflexion über die dunklen Möglichkeiten in solchen Fällen. Auch auf solchen Wegen können wir uns verirren; wir bewegen uns in einem Feld von Hypothesen, das sollte vorsichtig geschehen, ohne vorgreifendes Urteil, mit einem Bewusstsein für die Tragödie, die auch dann vorliegt, wenn Madeleines Eltern weit mehr wissen, als sie bisher gesagt haben. Das steht keineswegs fest. Leider aber haben wir in vielen Fällen erstaunt sein müssen, dass Täter und Opfer sehr nah verbunden sein können. Es gibt eine psychische Erkrankung mit einer vermutlich sehr hohen Dunkelziffer, die zu dem jetzt drastisch veränderten Bild einer leidgeprüft die Öffentlichkeit suchenden Familie passt: Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, heute meist Münchhausen-by-proxy-Syndrom genannt. Es würde sich in diesem Fall mit einer Folie a deux verbinden: Um den Kontakt zu einem geliebten Menschen nicht zu verlieren, teilt ein sonst zu kritischem Denken durchaus befähigter Mensch dessen Wahn. Das Münchhausen-by-proxy-Syndrom wurde zum ersten Mal im Jahr 1977 beschrieben. Die Kranken sind Mütter, die auf den ersten Eindruck hin äußerst fürsorglich wirken und öffentlich besonders aufopfernd gegen Erkrankungen eines Kindes kämpfen, die sie ihm heimlich selbst zufügen. Das können Vergiftungen durch Medikamente sein, aber auch Misshandlungen, über die das Kind unbedingt schweigen muss (beispielsweise droht die Mutter mit Selbstmord, wenn das Kind sie verrät). Im typischen Fall verfügen die Mütter, die an diesem Syndrom leiden, über medizinsche Kenntnisse. Sie sind oft selbst traumatisiert worden und hatten ein gestörtes Verhältnis zur eigenen Mutter. Sie wirken absolut von der Krankheit ihres Kindes überzeugt, sind mit seinen Leiden überidentifiziert und bei den Ärzten gefürchtet, weil sie deren mangelnden Einsatz kritisieren. Es sind sozusagen überoptimale Mütter, deren Dynamik an die Feuerwehrleute erinnert, die einen Brand legen, um allen beweisen zu können, wie tüchtig sie bei den Löscharbeiten sind. Diese seelische Störung von Müttern ist außerordentlich schwer zu entdecken. Ich habe einmal einen Fall verfolgt, in dem eine Spezialklinik über mehrere Jahre getäuscht wurde und an eine komplizierte Herzrhythmusstörung eines Kindes glaubte, das von seiner Mutter periodisch vergiftet worden war. Das Kind wurde über einige Jahre hin stationär aufgenommen, die Mutter in einem eigenen, hotelähnlichen Nebengebäude der Klinik untergebracht. Die Mutter hatte sich gründliche medizinische Kenntnisse angeeignet und war wegen ihrer Fürsorge bei den Schwestern sehr angesehen und bei den Ärzten respektiert. Erst als eine der Ärztinnen während einer Fortbildung von der Möglichkeit einer solchen Verhaltensstörung erfahren hatte, schöpfte sie Verdacht und konnte die Zusammenhänge aufdecken. Wenn sich der gegenwärtige Verdacht der Ermittler bestätigen sollte und die Eltern Madeleines in das Verschwinden ihrer Tochter verstrickt sind, ist die kriminologisch-psychiatrische Literatur um einen Fall reicher geworden, der so nur in einer Event- und Mediengesellschaft denkbar ist. Wenn sich die Wellen beruhigt haben, wird vielleicht wieder ein wenig Respekt einkehren vor der grenzenlosen Möglichkeit der Psyche, in Scheinwelten zu leben, die in dem vorliegenden Fall buchstäblich ein Millionenpublikum verstrickt hat. Gerade die engsten, am meisten mit Emotionen besetzten Beziehungen, die zwischen Mutter und Kind und zwischen Liebespaaren, sind auch am meisten offen für einen Realitätsverlust, in dem etwas so sein muss, wie ich glaube, dass es ist, - und wo es umso mehr von mir geglaub...
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