»Es dauerte etwa zehn Minuten ...«

September 1942: Massenmord an sowjetischen Kriegsgefangenen im KZ Neuengamme

»Es dauerte etwa zehn Minuten, bis das Schreien verstummte. Danach wurden die Türen geöffnet, und eine Anzahl Leichen fiel heraus. Nachdem sich das Gas wieder aus dem Bunker verflüchtigt hatte, mussten die Häftlinge die Toten auf Rollwagen durch das Häftlingslager ins Krematorium transportieren.« Fritz Bringmann, als 15-Jähriger wegen aktiven Widerstandes gegen das Nazi-Regime verhaftet und zehn Jahre Häftling in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Neuengamme, bringt eine heute wieder fast vergessenen Opfergruppe in Erinnerung. Vor 65 Jahren, an einem späten Nachmittag Ende September 1942, wurden im Bunker des KZ Neuengamme nahe Hamburg 197 sowjetische Kriegsgefangene mit dem von der Hamburger Firma Tesch & Stabenow gelieferten Giftgas Zyklon B ermordet. »Der Bunker war einer der schrecklichsten Orte in Neuengamme«, erinnert sich Bringmann. In diesem ca. acht mal sechs Meter großen Raum befanden sich fünf Zellen und ein Gang. Hier wurden Häftlinge eingewiesen, um eine Arreststrafe abzusitzen. Hier fanden Massenhinrichtungen durch Erschießen oder Erhängen statt. Anfang September 1942 beobachten Häftlinge, wie mehre Rohre durch das Dach in den Bunker verlegt und von einem Häftling Ventilatoren mit Heizspiralen eingebaut wurden. Die Vorbereitungen für die Ermordung der sowjetischen Kriegsgefangenen, die gerade aus dem Lager Fallingbostel nach Neuengamme überstellt worden waren. Es handele sich um Kommissare der Roten Armee, wurde den Häftlingen gesagt, die in Fünferreihen auf dem Appellplatz antreten mussten und Zeuge des barbarischen Mordes werden sollten. »Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf«, hatte Hitler bereits am 30. März 1941, Monate vor dem Überfall auf die Sowjetunion, dekretiert. Und weiter: Kommissare und Angehörige der sowjetischen Geheimpolizei seien Verbrecher und müssten als solche behandelt werden. Der darauf basierende »Kommissarbefehl« vom Mai 1941 verfügte kurz und knapp: »Sie sind zu beseitigen.« Am 17. Juli 1941 vervollständigte der Chef des Reichssicherheit-Hauptamtes (RSHA), SS-Gruppenführer Heydrich, die Mordverfügung mit »Richtlinien über die Säuberung der Gefangenenlager, in denen Sowjetrussen untergebracht sind«. Ausgemachte Kommissare seien »nach Vorschrift« oder »bestimmungsgemäß« zu behandeln« Dementsprechend waren bereits im Herbst 1941 in Auschwitz sowjetische Kriegsgefangene »zur Probe« mit Zyklon B vergast, im KZ Sachsenhausen fast zeitgleich über Zehntausend in Vergasungsfahrzeugen, Genickschussanlagen oder durch Typhus gemeuchelt und in Neuengamme 50 bis 60 sowjetische Kommissare durch Genickschuss gelyncht worden. An jenem düsteren Septembertag vor 65 Jahren mussten die 197 Kriegsgefangenen sich vor dem Bunker nackt ausziehen. Wegen Seuchengefahr im Lager müssten sie baden und desinfiziert werden, sagten ihnen die SS-Leute. Und fügten hinzu, sie sollten sich merken, wo sie ihre Kleiderbündel hinlegen, damit sie die ihren »nachher« schnell wiederfänden. Dann wurden sie in die »Duschen« getrieben. Nachdem die Türen verschlossen waren, stieg SS-Sanitäter Bahr auf das Dach und schüttete, wie er 1946 im 1. »Curiohaus-Prozess« gegen Angehörige der SS-Wachmannschaft aussagte, fünf Dosen Zyklon B in die Rohre. Heizspirale und Ventilator wurden eingeschaltet, das Giftgas verbreitete sich rasend schnell im Bunker. Die auf dem Appellplatz zusammengetriebenen Häftlinge, so Fritz Bringmann in seinen 1985 erschienenen Buch »Neuengamme - Berichte, Erinnerungen, Dokumente«, konnten die Schreie der Gefangenen im Bunker deutlich hören. Und weiter berichtet er vom grausigen Geschehen: »Es war gar nicht möglich, die Leichen einzeln aus dem Bunker herauszuholen. Sie waren während des Todeskampfes übereinandergestiegen und hatten sich völlig ineinander verkrampft ... So mussten immer in Partien von zwei bis drei Leichen jeweils durch Brechen der Arme oder Beine die Toten aus dem Bunker herausgeholt und auf die Rollwagen gelegt werden.« Vor dem Abrücken in ihre Baracken mussten die Häftlinge auf Befehl des Lagerführers perfider Weise noch das Lied »Willkommen froher Sänger« anstimmen. Im November 1942 fand in Neuengamme die zweite große »Liquidierung« sowjetischer Kriegsgefangener durch Gas statt. Aus dem Lager Fallingbostel kamen 251 Invaliden, Krüppel mit Prothesen und Krücken, Gefangene, die - weil nicht mehr arbeitsfähig - von der SS als »unnütze Fresser« zur »Vernichtung« freigegeben worden waren. Die Mordaktion verlief nach dem Septembermuster, bis auf einen Unterschied: Häftlinge, die sich nicht mehr selbst bewegen konnten, mussten vo...

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