Turbulente Jahrtausende für die ersten Europäer

Klimaveränderungen und Einwanderung prägten Europas frühe Bevölkerung

  • Andreas Knudsen
  • Lesedauer: 5 Min.
Menschliche Fossilien aus Doggerland, einem heute unter der Nordsee liegenden Gebiet
Menschliche Fossilien aus Doggerland, einem heute unter der Nordsee liegenden Gebiet

Vor über 100 Jahren, als die Wissenschaft die Fesseln religiöser Dogmen abgeschüttelt hatte, stand es bereits fest, dass die Wiege der Menschheit außerhalb Europas gestanden haben muss. Wo genau, war unklar. Ein archäologischer Fund von 1891 deutete auf Java hin, was im europäischen Bewusstsein der damaligen Zeit undenkbar war. Als im Jahr 1912 im englischen Piltdown ein Schädel gefunden wurde, dessen Alter auf 200 000 bis 500 000 Jahre geschätzt wurde, kam das der eurozentristischen Denkweise der Zeit sehr gelegen. Obwohl von Anfang an Zweifel an der Echtheit bestanden, wurde der Fund erst 1953 endgültig als Fälschung entlarvt, während die afrikanische Wiege der Menschheit noch nicht bekannt war.

Um die auf dem Fund in der Kiesgrube von Piltdown fußende Theorie durch eine solide, wissenschaftlich fundierte zu ersetzen, mussten Archäologen und Linguisten Jahrzehnte daran arbeiten, die Puzzlesteine der Besiedelung Europas zu sammeln und zusammenzusetzen. Die Archäologie kann die Hinterlassenschaften einer materiellen Kultur analysieren, aber nicht klären, ob ihre Träger Neuankömmlinge oder Alteingesessene waren und somit die Frage beantworten, ob Wanderungen von Menschen oder die Übernahme einer Kultur von anderen Gruppen verantwortlich sind für die Ausbreitung einer Kultur. Eine neue im Fachjournal »Nature« veröffentlichte Studie von Wissenschaftlern aus Leipzig, Tübingen und Peking analysierte 356 Genome von Individuen und stellt einen gewissen Abschluss dieser Arbeit des Sammelns und Zusammensetzens dar. Diese frühen Europäer besiedelten den Kontinent im Zeitraum von vor 35 000 bis 5000 Jahren, als die Eiszeit ihren letzten Höhepunkt erreichte beziehungsweise der heutigen Warmzeit gewichen war. Sie gehörten verschiedenen Steinzeitkulturen an und ihre Reste wurden in 14 europäischen und zentralasiatischen Ländern ausgegraben. Die neue Studie bestätigt die Forschungsergebnisse von 2016, als Wissenschaftler der Universität Harvard und des Leipziger Max-Planck-Instituts nachweisen konnten, dass die heutigen Europäer Nachkommen von drei vorzeitlichen Einwanderungswellen sind.

Erste moderne Europäer starben aus

Die allerersten modernen Menschen, die Europa vor etwa 45 000 Jahren erreichten, konnten sich zwar in ihrer neuen Heimat etablieren, gingen aber schweren Zeiten entgegen, als das Klima vor 40 000 bis 30 000 Jahren markant kälter wurde. Wie die Neandertaler, die über Hunderttausende von Jahren in Europa gelebt hatten, starben auch sie aus und hinterließen keine genetischen Spuren im Erbgut der modernen Europäer. Dass Europa aber trotzdem nicht menschenleer war, ist den Trägern der Gravettien-Kultur zu verdanken, die sich 32 000 v.u.Z. zwischen dem heutigen Österreich und Italien beziehungsweise Südwestfrankreich und Spanien etablierten. Diese beiden Gruppen teilten zwar die gleiche materielle Kultur, aber ein genetischer Austausch fand erstaunlicherweise nicht statt. Während die westliche Gruppe ein Klimarefugium fand, starb die östliche Gruppe aus. Möglicherweise verhinderten die Alpen und die weitläufigen Kaltsteppen mit nur wenigen potenziellen Beutetieren ein Umherschweifen und damit mögliche Kontakte zwischen beiden Gruppen.

Die Forschungsgruppe um Leitautor Cosimo Posth korrigierte damit die frühere Auffassung, dass die Apennin-Halbinsel auch während der kältesten Periode der letzten Eiszeit besiedelt war. Erst als es um 17 000 v.u.Z. wieder langsam wärmer wurde, konnten neue Gruppen, die sogenannten Epigravettien, von Anatolien über die Balkanhalbinsel einwandern und Italien und Südosteuropa erneut besiedeln. Die westliche Gravettien-Kultur entwickelte sich weiter zu den bekannten archäologischen Kulturen der Solutréen und Magdalena-Kulturen und ihre Träger wiesen eine bemerkenswert stabile genetische Stabilität über 20 000 Jahre aus.

Jäger wandern nach Norden

Etwa 12 000 v.u.Z. setzte die heutige Erwärmung ein, die Europas Landschaft stark veränderte. Von Süd nach Nord breiteten sich Wälder aus und veranlassten die Epigravettien, neue Lebensräume zu suchen. Im Takt mit ihrer Verbreitung mussten die alteingesessenen Jäger Westeuropas weiter nach Norden ausweichen. Die britischen Inseln waren noch landverbunden und boten zusammen mit dem Doggerland der Eiszeitfauna und damit den Großwildjägern weiterhin gute Lebensbedingungen.

Über Tausende von Jahren veränderte sich das Leben dieser Jäger und Sammler nur wenig. Sie passten ihre Werkzeuge und Jagdwaffen den örtlichen Verhältnissen an und die Gruppen waren relativ klein. Eine radikale Veränderung ihrer Lebensumstände trat erst ein, als etwa 6100 v.u.Z. Gruppen früher Bauern über den Balkan nach Europa vordrangen. Sie nahmen zunächst die fruchtbaren Flussebenen in Besitz, die auch von den Jägern bevorzugt worden waren. Einige Jägergruppen zogen sich nach Nordeuropa zurück, um ihr gewohntes Dasein weiterzuführen. Die meisten jedoch übernahmen die neue Wirtschaftsform und sesshafte Lebensweise und vermischten sich dabei mit den Neuankömmlingen. Vermischung klingt zwar friedlich, aber archäologische Funde u.a. aus Herxheim, Halberstadt und Talheim zeigen, dass es zumindest teilweise gewaltsam vor sich ging. Es gab regelrechte Massaker und an den Skeletten konnte nachgewiesen werden, dass zahlreiche Männer hingerichtet wurden, aber nie Frauen im gebärfähigen Alter. Die Gewalt wurde von beiden Gruppen ausgeübt, die um die besten Ackerböden kämpften und junge Frauen als begehrte Beute ansahen, um die eigene Gruppe zu stärken.

Die Herkunftsfrage der modernen Europäer ist damit im Wesentlichen geklärt. Zum Gesamtbild gehört noch eine letzte Einwanderungswelle vor etwa 4000 Jahren aus den südrussischen Steppen, die Europa insbesondere die indoeuropäischen Sprachen brachte. Diese Einwanderer waren jedoch nicht Teil der jetzt veröffentlichten Studie.

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