Bernhard Weßlings Buch »Was für ein Zufall!«

Beim Lesen von Bernhard Weßlings »Was für ein Zufall!« muss man sein Weltverständnis öfter mal korrigieren

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.
Hier wird keine Energie erzeugt, sondern umgewandelt.
Hier wird keine Energie erzeugt, sondern umgewandelt.

Bernhard Weßlings »Was für ein Zufall!« ist ein Sachbuch und zugleich eine mitreißende persönliche Erzählung. Denn der Autor ist in seinem Leben mit unerhört vielen Zufällen in Berührung gekommen, die ihn immer wieder in seinen Forschungen vorangebracht haben. Fügungen? So würde es Bernhard Weßling nicht nennen wollen, das klingt ihm zu sehr nach Metaphysik. Er ist mit Leib und Seele Naturwissenschaftler. Als promovierter Chemiker hat er nicht nur praktische Produkt- und Verfahrungsentwicklung betrieben, sondern sich auch theoretisch in Kolloidchemie und -physik vertieft – in Bezug auch auf die Forschungen des russisch-belgischen Nobelpreisträgers Ilya Prigogine (1917 – 2003) zur Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik. Das hört sich ziemlich schwierig an. Aber Weßling kann Schwieriges verblüffend einfach erklären. Was mich faszinierte, war nicht nur das Laien-Lesern zugewandte verständliche, lebendige Erzählen, sondern vor allem auch die darunter liegende Haltung: dieses Staunen und Wissen-Wollen, die unablässige Neugier, die ihn wahrscheinlich nie verlassen wird. Was hier »nie« heiße, könnte er einwenden. Dass unser Leben endlich ist, gehört zu den Gesetzmäßigkeiten der Natur, die wir immer besser erkennen, wobei wir uns auch auf Nicht-Vorhersehbares gefasst machen müssen. Selbst wenn wir mit »Gleichgewicht« Stabilität verbinden: Absolute Balance bedeutet Erstarrung, Tod. Unser Leben vollzieht sich in einem Nicht-Gleichgewichtssystem, allein schon, weil wir von ständigem Energiezufluss abhängig sind. 

Weßling war ein entdeckungsfreudiges Kind aus einer eher mitellosen achtköpfigen Familie: »Mich trieb die Warum-Frage um.« Nach seinem Chemiestudium führte ihn der Zufall in ein Ingenieur-Beratungsbüro, dann in das Entwicklungslabor eines Chemieunternehmens. Später gründete er eine eigene Tochterfirma. Er entwickelte ein neuartiges Verfahren in der Kunststofftechnologie und ließ es patentieren. Es ging um ein Polymer, das elektrisch leitfähig ist. Kunststoff mit metallischen Eigenschaften also, wichtig für die Leiterplattenindustrie. Von 2005 bis 2017 war er in China tätig, hat dort auch Chinesisch gelernt. Immer wieder fügt er in sein Buch »ChengYu« ein, Sprichwörter aus vier chinesischen Schriftzeichen, hinter denen sich uralte Weisheitsgeschichten verbergen. An vorliegendem Band hat er sieben Jahre gearbeitet. Vorher veröffentlichte er »Der Ruf der Kraniche. Expeditionen in eine geheimnisvolle Welt«. Wie kommt ein Chemiker zur Kranichforschung? Er ist gern in der Natur unterwegs und war von den grazilen »Tänzern der Lüfte« fasziniert.

Das Titelbild des neuen Buchs nun erinnerte mich zunächst an ein Pilzmyzel, aber es zeigt das Delta des Flusses Lena in Sibirien. Wenige Seiten später sieht man den Cirrusnebel, der wie eine turbulent wirbelnde Rauchfahne aussieht, »allerdings mit einem Durchmesser von über einhundert Lichtjahren«. Von reversiblen und irreversiblen Prozessen ist zu lesen, von spontaner Selbstorganisation offener Systeme – das kennt man aus der Gesellschaftstheorie, aber es zeigt sich eben auch in der Chemie. Und schließlich geht es um das Wesen der Zeit und um die Frage, warum wir sie so unterschiedlich wahrnehmen. Chemie, Physik, Biologie, Gehirnforschung, Erkenntnistheorie, Philosophie, Wirtschaft, das Universum – wie der Autor Wissensbereiche zu verbinden sucht, führt zu einem Weltbild, das man beim Lesen mit dem eigenen dialektischen Denken vergleicht, was bereichernd und vergnüglich ist.

Und man muss so manche eigene, landläufige Vorstellung korrigieren. Wenn zum Beispiel von Energieerzeugung die Rede ist, kann es doch nur Energieumwandlung sein, bei der immer Abfallenergie, Entropie, entsteht. Beklagt wird oft, dass etwas nicht im Gleichgewicht sei; als wünschenswert erscheint es, etwas ins Gleichgewicht zu bringen. Was für eine Illusion! Alles befindet sich in Bewegung und miteinander im Zusammenhang in hochkomplexen Strukturen, so Weßling – »keine zwei Schneeflocken sind wirklich identisch«, jede Galaxie ist einmalig. Und »für jedes System, das man wirklich tief verstehen möchte, muss man ja herausfinden, welcher Art die Wechselwirkungen sind, die die Strukturen und die Dynamik erzeugen«. Wenn da zwei oder mehrere unabhängige Kausalketten zeitlich und örtlich zusammentreffen, kommt es eben zu jenen Ereignissen, die wir Zufall nennen, so wir sie überhaupt bemerken. Da gefiel mir der Begriff »Serendipität«, der die »Kunst« meint, »etwas Unerwartetes, was einem bei der Suche nach anderen Dingen zufällig begegnet, als relevant zu erkennen«. Im guten oder schlechten Sinne. Was festgefahren scheint, kommt in Bewegung.

Bernhard Weßling: Was für ein Zufall! Über Unvorhersehbarkeit, Komplexität und das Wesen der Zeit. Springer Vieweg, 240 S., br., 27,99 €. Der »nd«-Literatursalon mit Bernhard Weßling findet am 3. Mai um 18 Uhr im Haus am Franz-Mehring-Platz 1 in Berlin statt.

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