»Aus heutiger Perspektive war das Zwangsarbeit«

Als Jugendliche schickte ihre Mutter Consuelo García del Cid in eine Besserungsanstalt für Mädchen. Heute kämpft sie um eine offizielle Entschuldigung

  • Julia Macher
  • Lesedauer: 8 Min.
Tausende Mädchen und junge Frauen wurden zwischen 1941 und 1983 in sogenannten Besserungsanstalten untergebracht und von katholischen Frauenorden betreut.
Tausende Mädchen und junge Frauen wurden zwischen 1941 und 1983 in sogenannten Besserungsanstalten untergebracht und von katholischen Frauenorden betreut.

Mit 15 Jahren hat Ihre Mutter Sie ohne Ihr Wissen oder Ihre Zustimmung in eine Besserungsanstalt für Mädchen und junge Frauen eingewiesen, angeblich weil Sie zu »rebellisch« waren. Was war passiert?

Interview

Consuelo García del Cid, 64, wurde als Jugendliche von ihrer Mutter während der Franco-Diktatur in eine Besserungsanstalt für junge Frauen eingewiesen. In den von religiösen Orden geleiteten Refor­matorien, die dem »Patronato para la Protección de la Mujer«, einer Institution zum »Schutz der Frau«, unterstanden, gehörten religiöse Indoktrination, Körperverletzung und Zwangsarbeit zum Alltag. Über ihre Erfahrungen dort hat García del Cid mehrere Bücher geschrieben.

Ich stamme aus einer gutbürgerlichen Familie aus Barcelona – und während der Franco-Diktatur gab es für die aufstrebende Mittelklasse nichts Schlimmeres, als ein Kind zu haben, das sich als »links« bezeichnete und gegen Franco demonstrierte. Das war schlimmer, als drogenabhängig zu sein.

Was hat Sie als Teenagerin in den 70er Jahren zur Oppositionellen gemacht?

Meine Mutter hat mich zunächst auf eine Privatschule geschickt, aber weil ich so schlechte Noten hatte, musste ich dann mit 14 Jahren auf eine Fachschule. Dort habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Menschen aus allen sozialen Klassen getroffen, Arbeiterkinder, Kinder von Angestellten. Das hat mir die Augen geöffnet für das Land, in dem ich lebte. Ich lernte Trotzkisten und Kommunisten kennen – und ging dann wirklich jedes Wochenende auf den Boulevard Les Rambles demonstrieren. Das Regime lag in den letzten Zügen und zeigte noch mal seine ganze Härte, Gründe für Protest gab es zuhauf. Meine Mutter hat mich beschatten lassen, meine Taschen durchwühlt und Flugblätter der damals verbotenen, kommunistischen Gewerkschaft CCOO gefunden. Und irgendwann hat sie sich dann entschlossen, mich dem Patronato zu übergeben.

Wussten Sie davon?

Franquismus: »Aus heutiger Perspektive war das Zwangsarbeit«

Nein. Eines Tages stand meine Mutter mit unserem Hausarzt in meinem Zimmer und sagte mir, ich müsste mich gegen die Grippe impfen lassen. Der Arzt gab mir eine Spritze und als ich aufgewacht bin, fand ich mich in einem Zimmer mit einem kleinen vergitterten Fenster wieder. Meine Zunge fühlte sich an wie Pappe, ich hatte Atemschwierigkeiten. Offensichtlich hatte man mich betäubt, ein- oder mehrere Male, das weiß ich bis heute nicht. Als ich aus dem Fenster rausguckte, sah ich nur Autos mit Madrider Kennzeichen. Mir wurde klar: Ich war in Madrid, weit weg von zu Hause.

Eine regelrechte Entführung. Was haben Sie getan?

Ich habe schrecklich geweint, so schlimm habe ich in meinem Leben nie wieder geweint. Dann öffnete sich die Tür, eine Nonne kam herein – und ich wusste, ich war in den Händen des Patronato.

Hat sie Ihnen das gesagt?

Nein, das Wort »reformatorio« nahmen diese Frauen nicht in den Mund. Aber die Drohung: »Ich stecke dich in eine Besserungsanstalt, wenn du dieses oder jenes tust«, war eine gängige Drohung in vielen Familien. So ähnlich wie die Geschichte vom bösen Mann mit dem Sack, der nachts die unartigen Kinder holt. Aber ich hätte nie gedacht, dass diese Drohung tatsächlich wahr werden würde. Irgendetwas ist in diesem Moment in mir zerbrochen.

Die Besserungsanstalten für junge, »gefährdete« Frauen wurden von Nonnen verschiedener religiöser Orden geleitet. Wie lief der Alltag dort ab?

Mein Heim unterstand den Adoratrices …

… einem 1856 in Madrid gegründeten spanischen Orden.

Wir wurden täglich um sieben Uhr geweckt, dann mussten wir duschen, das Bett machen, gemeinsam beten und zur Messe gehen. Danach gab es Frühstück und dann wurde erst mal geputzt, bevor es in die Werkstätten ging. Nachmittags gab es dann drei Stunden Schule, aber Unterricht konnte man das kaum nennen. Manche haben einfach monatelang geschwungene Linien in ein Heft gezeichnet. Dabei hieß es immer, wir seien in einer »Ausbildungsanstalt«. Ein Hohn!

Und was wurde in den Werkstätten gemacht?

Ich habe Puppen genäht: rote Zwerge, die wir mit Bonbons befüllten und die dann von einer großen Konditoreikette als Kuchendekoration verkauft wurden. In anderen Anstalten haben die jungen Frauen Kleider für das Warenhaus Corte Inglés genäht; in weiteren wurden Kekse gebacken. Die Einnahmen gingen an die Klöster, wir Insassinnen selbst haben davon natürlich keine Pesete gesehen. Aus heutiger Perspektive war das Zwangsarbeit.

Was für junge Frauen waren außer Ihnen dort?

Die meisten stammten aus armen Familien, oft aus abgelegenen Dörfern, deren Eltern sich einfach keinen Nachwuchs leisten konnten. Diese Mädchen nahmen ihr Schicksal einfach so hin, ihnen erschien das alles normal. Dazu kamen die Waisen, die bereits ihr ganzes Leben in staatlicher Obhut verbracht hatten. Und dann gab es Töchter von Prostituierten, von Gefangenen und viele Mädchen, die vergewaltigt worden waren. Die Nonnen achteten streng darauf, dass sich die verschiedenen Gruppen nicht mischten.

Warum kamen minderjährige Vergewaltigungsopfer in ein Reformatorium?

Das waren ganz oft Inzest-Opfer: Mädchen und Frauen, die von ihrem Vater, einem Onkel oder einem Cousin vergewaltigt worden waren. Doch statt den Täter vor Gericht zu stellen und dadurch womöglich »Schande über die Familie« zu bringen, hat man einfach das Opfer weggesperrt. Manchmal kam dann sogar der Vergewaltiger-Vater sonntags zu Besuch und die Nonnen sagten dem Mädchen: »Dass dein Vater dich besucht, ist gut. Denn es zeigt, dass er dich liebt«. Das muss man sich mal vorstellen! Andere junge Frauen waren dort, weil sie rauchten, tranken oder nachts unterwegs waren – und ich, weil ich den Fehler gemacht hatte, selbstständig zu denken. Das hat man mich büßen lassen.

Inwiefern?

Ich musste beten, beten, die ganze Zeit beten – und zwei, drei Mal in der Woche gab es dann Stuhlkreise, bei denen wir aufgefordert wurden, über Themen wie Scheidung, Drogen oder die Hippie-Bewegung zu sprechen. Ich habe schnell gelernt, das zu sagen, was sie hören wollten. Das war meine Überlebensstrategie. Denn dass man in diesen Heimen mit uns machen konnte, was man wollte, hatte ich ja schon bei meiner Einweisung erlebt.

Sie haben, basierend auf Ihrer persönlichen Geschichte, mehrere Bücher über das »Patronato para la Protección de la Mujer« geschrieben. In einem davon schildern Sie, wie junge Frauen von einem Gynäkologen auf Jungfräulichkeit untersucht wurden. Sie auch?

Davon blieb ich verschont. Ich war eine der wenigen jungen Frauen, die dort gegen Bezahlung war. Meine Mutter hatte die Vormundschaft über mich ja nicht abgegeben, ich war nicht in staatlicher Obhut, sondern quasi »Internatsschülerin«. Deswegen galt ich als »intakt«, also jungfräulich.

Wie sind Sie dem Heim entkommen?

Ich bin abgehauen. Das erste halbe Jahr durfte ich das Heim nicht verlassen, danach konnte ich an einem Erste-Hilfe-Kurs außerhalb teilnehmen – eine Art Freiheit auf Bewährung. Solche Ausflüge haben wir Insassinnen natürlich immer genutzt, um Anrufe für die anderen Bewohnerinnen zu erledigen, Briefe nach außen zu schmuggeln. Ich habe die Chance genutzt und bin zu einer Tante geflüchtet, die damals in Madrid wohnte. Doch die hat mich nach Absprache mit meiner Mutter in ein Flugzeug nach Barcelona gesetzt – und ich landete in einem anderen Heim, im Buen Pastor.

Wie ist es Ihnen dort ergangen?

Sehr viel besser. Die Nonnen dort zwangen mich nicht zum Gottesdienst, es gab keine Uniformen, ich hatte ein Einzelzimmer und durfte drei Zigaretten täglich rauchen. Und ich war zu Hause in Barcelona. Meine Mutter hatte mich zu einem Katechismus-Kurs außerhalb des Heims angemeldet, einer der Priester dort half mir dann raus. Er konnte nicht fassen, dass meine Mutter mich in eine Besserungsanstalt gesteckt hatte und bot mir an, ich könnte bei seiner Mutter wohnen. Doch das wollte meine Mutter auf keinen Fall. Die Familie des Priesters war stadtbekannt und gut angesehen, für meine Mutter hätte das einen Gesichtsverlust bedeutet – also nahm sie mich zurück zu sich nach Hause. Doch kurz darauf habe ich einen Brief von ihr an ihre Schwester gefunden. Darin überlegte sie, die Vormundschaft ab- und mich ganz in staatliche Obhut zu geben. Daraufhin habe ich den Erstbesten geheiratet, um weg von zu Hause zu kommen.

Besonders glücklich war die Ehe vermutlich nicht?

(lacht) Nein, natürlich nicht! Aber es war der einzige Weg rauszukommen. Nach acht Jahren – Spanien war längst eine Demokratie – habe ich mich scheiden lassen.

Hat Ihre Mutter Sie irgendwann um Verzeihung gebeten?

Als ich 2012 wegen meines Buches »Las deterradas hijas de Eva« über das Patronato im Fernsehen interviewt wurde, rief ich als erstes meine Mutter an. Erst wollte sie davon nichts wissen, doch als dann immer mehr Frauen mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gingen, hat sie mir geglaubt. In ihren letzten Lebensjahren hat sie mich dann tatsächlich um Verzeihung gebeten – in Worten und Taten. Meine Mutter war Bibliothekarin und hatte über ihre Berufsgenossenschaft Zugang zu Archiven. Eines Tages, sie war bereits weit über achtzig, überreichte sie mir einen dicken Packen mit Dokumenten über das Patronato. In diesem Moment habe ich verstanden, dass es ihr ernst war.

Wie sieht es mit der Verantwortung auf institutioneller Seite aus? Spanien hat sich im letzten Jahr per Gesetz zu »moralischer Entschädigung« aller Opfer der Diktatur verpflichtet. Dazu zählen auch alle, die sich der Moral der Zeit nicht fügten und dafür bestraft wurden.

Ich habe die Verantwortlichen des Gesetzes um ein Treffen gebeten. Ich möchte eine offizielle Entschuldigung von institutioneller Ebene, so wie das zum Beispiel die irische Regierung im Fall der katholischen Magdalenenheime getan hat. Und ich werde keine Ruhe geben, bis ich das erreicht habe.

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