Essen und Kolonialismus: »Mezcal war das Getränk der Armen«

Mario Rubén Ramirez López über die Kulinarik im mexikanischen Oaxaca, Kolonialismus und Tourismus

  • Lisa Kuner
  • Lesedauer: 7 Min.
Als kulinarische Stadtführer*in führt Mario Rubén Ramirez López Menschen durch die mexikanische Stadt Oaxaca de Juárez.
Als kulinarische Stadtführer*in führt Mario Rubén Ramirez López Menschen durch die mexikanische Stadt Oaxaca de Juárez.

Wo kommen Sie gerade her?

Von der Arbeit. Ich war mit einer Gruppe auf dem Mercado de Abastos, dem größten Markt von Oaxaca. Dort haben wir Nieve (typisches mexikanisches Eis, Anm. d. Red.) und Mezcal probiert.

Was ist überhaupt Mezcal?

Mezcal ist ein Destillat aus Agaven. Im Unterschied zu Tequila hat Mezcal eine geschützte Herkunftsbezeichnung aus Regionen von Oaxaca. Für seine Herstellung werden verschiedene Typen von Agave verwendet und nicht nur die blaue Agave wie für den Tequila. Während Tequila nur zu mehr als 50 Prozent aus Agave bestehen muss, muss Mezcal zu 100 Prozent Agave enthalten.

Welche Rolle spielt das Getränk in Oaxaca?

Es ist schon lange Teil der Kultur von Familien aus dem Staat, besonders in den Gebirgen der Mixteca. Mezcal war früher ein saisonales Produkt. In der Hitzeperiode, wenn es nicht geregnet hat, haben die Leute Mezcal hergestellt, und wenn es geregnet hat, haben sie Mais angebaut. Aber Mezcal wurde auch seit jeher diskreditiert, es war eher das Getränk der Armen.

Heute gibt es hier in allen hippen Bars Mezcal, oft ist er auch ziemlich teuer. Wie hat sich das verändert?

Aktuell erlebt Mezcal einen wahren Boom, das ist richtig verrückt. Einige wilde Agaven sind sogar bedroht, weil so viel Mezcal produziert wird und rund um das Getränk gibt es auch einige schmutzige Geschäfte. Für mich ist das aus der ökonomischen Perspektive beunruhigend, weil früher vor allem Familien vom Mezcal gelebt haben und das jetzt oft große Unternehmen sind. Ökologisch ist das aber auch problematisch, weil die Agave sehr langsam wächst und dieser Boom Monokulturen fördert. Und das nur, damit sich die Leute betrinken können.

In Europa ist Mezcal – oder war es zumindest bis vor Kurzem – völlig unbekannt. Tequila hingegen kann man in jedem Supermarkt kaufen. Können Sie sich das erklären?

Seit der Zeit von Porfirio (Porfirio Díaz, ehemaliger mexikanischer Präsident, Anm. d. Red.) wird das Getränk systematisch herabgewürdigt. Während Tequila politisch zum Nationalgetränk gemacht wurde, geriet Mezcal immer mehr in Vergessenheit. In der Zeit der Prohibition wurde Mezcal auch besonders stark verfolgt, weil es als ein gefährliches Getränk galt. Es gibt noch ein anderes Getränk, mit dem das ebenfalls passiert ist, der Pulque. Aktuell versucht man auch, das wieder aufleben zu lassen. Das ist aber schwieriger, weil Pulque ein fermentiertes Getränk ist, das man nicht aufbewahren kann. Das alles hat auch dazu geführt, dass wir heute so viel Bier in Mexiko trinken.

Können Sie genauer erklären, was Pulque ist?

Wie gesagt, es ist ein fermentiertes Getränk, ebenfalls aus einer Agave, allerdings aus einer bestimmten Sorte, die 20 Jahre braucht, um zu wachsen. Wenn sie reif ist, schneidet man sie auf und aus dem Inneren kommt ein Saft, der »Aguamiel« heißt. Den lässt man dann bis zu sieben Tage fermentieren, je nachdem wie viel Alkohol man möchte. Darin sind viele Probiotika enthalten, es ist sehr gesund.

Spannend, Sie kennen sich richtig gut mit der kulinarischen Geschichte aus. Wie sieht Ihre Arbeit aus?

Ich kreiere Erfahrungen für Touristen. Das macht sehr viel Spaß, ist aber auch sehr ermüdend.

Woher kommt Ihre Faszination fürs Essen und die Kulinarik?

Als Jugendlicher war ich viel in der Küche. Ich wollte eigentlich Koch werden, aber meine Eltern haben mich nicht gelassen. Sie dachten, man kann damit kein Geld verdienen. Deshalb habe ich dann erst einmal Ernährungswissenschaften studiert. Später habe ich dann auch in Restaurants gearbeitet, wobei es mir immer besonders viel Spaß gemacht hat, mit den Kunden zu reden. Einmal kam dann ein Youtuber, der wollte, dass ihn jemand herumführt. Ich habe das gemacht und ab da habe ich immer mehr Anfragen für Touren bekommen.

Oaxaca ist weltweit bekannt für seine Kulinarik. Woher kommt all diese Vielfalt an verschiedenen Gerichten hier?

Dafür gibt es viele Gründe. Der erste liegt sicher an der Geografie. Durch die Gebirge gibt es viele verschiedene Ökosysteme, unendlich viele Zutaten und alle Dörfer sind etwas isoliert. So hat sich überall auch eine eigene Gastronomie entwickelt. In Oaxaca gibt es 16 indigene Völker, jedes hat seine eigene Sprache, Kultur und Küche.

Gibt es eine Verbindung zwischen dieser reichen Gastronomie und Kolonialismus?

Ja, natürlich. Nehmen wir zum Beispiel Mole (typische Soße aus Oaxaca, meist auf der Basis von Erdnüssen, Anm. d. Red.). Darüber zu sprechen, ist, wie die Geschichte Mexikos zu erzählen. Wenn wir heute von Mole sprechen, denken wir an diese anspruchsvolle Soße mit Schokolade und gefühlt 30 000 Zutaten. Aber das war nicht immer so. Die erste Mole war die gelbe Mole. Die bestand hauptsächlich aus Tomate und Chili. Im Laufe der Zeit hat sie sich dann immer mehr diversifiziert, Zutaten aus Asien und Europa kamen etwa im Zuge der Conquista dazu.

Also hat die Eroberung hier zumindest kulinarisch auch gute Konsequenzen gehabt?

Sie hat auf jeden Fall dazu geführt, dass sich verschiedene Einflüsse mischten. Davor gab es beispielsweise weder Zwiebel noch Knoblauch in Mexiko.

Ging der Küche in Oaxaca durch die Kolonialisierung auch etwas verloren?

Ja, Amaranth wurde beispielsweise fast nicht mehr genutzt. Und auch der Maispilz, der vorher oft gegessen wurde. Und es gibt jetzt auch das Thema von kultureller Aneignung in der Gastronomie.

Was meinen Sie damit?

Da gehen Köche beispielsweise in traditionelle Gemeinden, lernen etwas über ein bestimmtes Rezept und verwenden es dann in einem Gericht, das sie aus dem Kontext gerissen für viel Geld in ihren Restaurants verkaufen.

Warum ist dieser Kontext wichtig?

Nehmen wir zum Beispiel die Mole Chichilo. Sie wird aus verbrannten Chilis gemacht, das repräsentiert den Schmerz einer Familie, die jemanden verloren hat. Eine bittere Soße. Wenn man das einfach in einem Restaurant über ein exotisches Fleisch wie einen Schweinebauch kippt, dann finde ich das falsch.

Was heißt das für die Touristen, die hierherkommen, vor allem auch um zu essen?

Wenn man gastronomischen Tourismus macht, muss man sich auch ein bisschen einer Kultur bewusst sein und darüber lernen wollen. Das kann nicht einfach nur bedeuten, in ein Restaurant zu gehen und tolle Fotos von leckerem Essen zu machen.

Wie kann so ein bewusster Tourismus aussehen?

Das ist komplex. Zuallererst sollte es wohl ein Geben und Nehmen sein. Ich finde es super, dass Touristen nach Oaxaca kommen, das ist ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor. Aber wenn sie dann Monate bleiben und die Mieten beispielsweise in der Altstadt hochtreiben, dann leiden hier darunter viele Menschen. Ich halte auch nicht viel davon, wenn Ausländer hier eine Mezcal-Fabrik eröffnen und damit Geld machen wollen.

Wie versuchen Sie dieses Bewusstsein in Ihren Touren umzusetzen?

Meine Arbeit ist sicher auch Teil des Problems. Ich strenge mich aber an, lokale Geschäfte zu unterstützen, meine Touren führen nur in Geschäfte von Menschen aus Oaxaca. Und ich bezahle die Leute für die Zeit, die sie mit den Touristen verbringen. Das finde ich sehr wichtig. Nicht immer wollen die Touristen beispielsweise Textilien kaufen, aber die Handwerker dahinter sollten trotzdem etwas davon haben, dass sie alles erklären.

Neben Gastronomie interessieren Sie sich auch sehr für Mode, richtig?

Ja, ich liebe die Textilien hier aus der Region. Irgendwann haben mich die männlichen Kleidungsstücke gelangweilt, irgendwann habe ich angefangen, einen Schal zu tragen, der hier eigentlich eher von Frauen getragen wird. Und dann habe ich mir mein erstes Kleid gekauft. Ich liebe es bis heute.

Wie reagieren die Leute darauf?

In der Kultur hier gibt es ein drittes Geschlecht, Muxes. Sie haben eine wichtige Rolle in der Gesellschaft. Ich bin keine Muxe, ich komme nicht aus einer traditionellen Gemeinde. Aber es hilft mir ungemein, dass es ein kulturelles Verständnis für mehr als zwei Geschlechter gibt.

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