»Neuwahlen sind Pedro Sánchez’ einzige Option«

Der katalanische Europaabgeordnete Antoni Comín über die Lage in Spanien rund um die vorgezogenen Wahlen

  • Interview: Ralf Streck
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie kennen das Innenleben verschiedener Parteien in Spanien. Die Sozialdemokratie (PSOE) hat Ende Mai fast alle Regionen an die Rechte verloren. In Katalonien, wo nur Kommunalwahlen stattfanden, verlor die regierende Republikanische Linke (ERC), die in Madrid die PSOE stützt, viel an Stimmen und das Rathaus in Barcelona. Wie bewerten Sie das?

Es war klar, dass die ERC die Rechnung für den Schwenk um 180 Grad bekommen würde. Sie hatte einst besonders auf eine einseitige Loslösung von Spanien gedrängt, wenn es paktiert nicht geht. Sie hat sich mit Beginn der Repression aber zum Gegner dieses Wegs entwickelt und an der Spitze der katalanischen Regierung seit 2021 viele Versprechen gebrochen. Sie trat einseitig in einen Dialog mit der Regierung ein, ohne es mit dem liberalen Koalitionspartner Junts per Catalunya (Gemeinsam für Katalonien) abzusprechen, und diente der spanischen Regierung bisher als Mehrheitsbeschaffer ohne Gegenleistungen. Sie hat sogar ein Dokument unterzeichnet, nur im Rahmen der spanischen Verfassung zu agieren. Das ist der Verzicht auf die Unabhängigkeit. Und ihr Dialog brachte keine Früchte.

Interview

Antoni Comín sitzt seit 2019 für die Partei Junts per Catalunya im Europaparlament. Comín ging nach dem Unabhängigkeitsreferendum 2017 ins belgische Exil. Er war bis 2014 Mitglied der katalanischen Sektion der spanischen Sozialdemokraten und danach bis 2019 in der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC).

Wie sehen Sie die sozialdemokratische Regierung in Madrid?

Spanien hat – anders als Deutschland, Italien oder Portugal – nach dem faschistischen Regime keinen Bruch erlebt. Die politische Kultur ist noch stark vom Franquismus verunreinigt. Die Rechte, mit vordemokratischen Idealen, akzeptiert nicht, dass die Sozialisten von der PSOE mit Linken koalieren, mit Parteien aus dem Baskenland oder Katalonien paktieren. Dass so die Sánchez-Regierung entstand, ist für sie ein Angriff auf die heiligen Werte der Nation. Das Problem für Pedro Sánchez ist, dass seine Regierung unfähig war, die Bedürfnisse der demokratischen Hälfte zu befriedigen, um weiter Unterstützung zu erhalten. Er hat dabei aber die rechte Hälfte gegen sich aufgestachelt. Dass er die Neuwahlen jetzt vorzog, ist sehr riskant, aber es ist seine einzige Option. Die ökonomischen Daten wie Wachstum und Beschäftigung sind nicht schlecht. Die hätten aber die weitere Abnutzung seiner Regierung nicht aufgehalten. Seine Chancen sind nun etwas besser als im Dezember.

Sehen Sie die Möglichkeit einer Neuauflage der »progressiven Regierung« oder wird die rechte Volkspartei (PP) im Bündnis mit der ultrarechten Vox wie in einigen Regionen auch die Zentralregierung übernehmen?

Die PP hat mit der Vox nur einen möglichen Bündnispartner. Eine große Koalition mit der PSOE wäre Selbstmord. Erhalten PP und Vox zusammen keine absolute Mehrheit, bleibt nur eine Alternative für eine Regierung. Dazu bräuchte Sánchez dann wohl den gesamten Rest. Bisher brauchte er unsere Stimmen von Junts nicht. Das wäre eine deutliche Veränderung.

Wäre es angesichts dieses Szenarios nicht sinnvoll, wenn die katalanischen Unabhängigkeitsparteien Junts, ERC und die antikapitalistische CUP gemeinsam antreten, da das Wahlrecht größere Formationen belohnt? Wird es eine Einheitsliste geben?

Junts will sie, die ERC nicht. Wir haben aus dem Exil vier Jahre dafür geworben. Ich war bis 2019 noch in der ERC, Präsident Carles Puigdemont bei Junts. Wir stellten aber fest, dass wir bei der ERC-Führung an die Wand laufen, denn unser Ziel ist die Unabhängigkeit. Eine Einheitsliste für eine Kapitulation ist sinnlos. Als Junts 2021 der Koalitionsregierung mit der ERC beitrat, sollten Bedingungen sichern, dass wir an der Unabhängigkeit festhalten. Wir traten aus, da die Vereinbarungen gebrochen wurden. Es gibt keine Einheitsliste, da es keinen strategischen ERC-Schwenk gibt.

Sie haben gerade »Briefe aus dem Herzen Europas« als Buch veröffentlicht. Worum geht es Ihnen?

Es handelt sich um Artikel aus meinem Exil. Es wurde in diverse Sprachen übersetzt. Sie kommen aus dem Herzen Europas, auf der Basis tiefgehender europäischer Werte: nie wieder Totalitarismus und Faschismus. Ich setze den katalanischen Prozess in Beziehung zum europäischen Projekt, da die Werte gleich sind. Ich erkläre, wie ich als linker Föderalist zum »Independentista« wurde. Ich hatte Jahrzehnte an einer föderalen Lösung in Spanien gearbeitet. Die ist nicht möglich, Spanien will sie nicht. Ich erkläre, wie aus einst 15 Prozent, die für die Unabhängigkeit eintraten, in wenigen Jahren mehr als die Hälfte der Bevölkerung wurde. Es geht hier nicht um einen Kampf zwischen zwei Nationalismen, sondern es ist ein politisch-kultureller Konflikt zwischen Autoritarismus und Demokratie.

Das Buch ist gratis bei der Gruppe »juntsxeuropa« im Europaparlament erhältlich. Die Bestellung kann auch an info@anc-deutschland.cat
gerichtet werden.

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