Fressen mit Moral: Die That Girls

Food for Thought (Teil 4): Auf Social Media lassen sich Frauen dabei beobachten, wie sie gesundes Essen zubereiten, um fit für den Kapitalismus zu sein

  • Lena Böllinger
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Brite weiß: An apple a day keeps the doctor away. So einfach kann das sein. Man kann aber auch Smoothies trinken.
Der Brite weiß: An apple a day keeps the doctor away. So einfach kann das sein. Man kann aber auch Smoothies trinken.

Jenny ist eine Hure und weiß ziemlich genau wie der Hase läuft. An die Adresse von »denen da oben« dekliniert sie: »Ihr Herrn, die ihr uns lehrt, wie man brav leben / Und Sünd und Missetat vermeiden kann / Zuerst müsst ihr uns was zu fressen geben / Dann könnt ihr reden: damit fängt es an.« Jenny – auch genannt Spelunken-Jenny – ist eine der Hauptfiguren in Bertolt Brechts Dreigroschenoper aus dem Jahr 1928. An einer Stelle erinnert die Spelunken-Jenny die Bourgeoisie: »Das eine wisset ein für allemal: … Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.«

Knapp 100 Jahre später hat diese Weisheit unter spätkapitalistischen Vorzeichen eine perverse Metamorphose durchlaufen. Der Gegensatz von Gewalt und Diskurs, von Fressen und Moral, auf den Spelunken-Jenny noch so vehement pochte, scheint heute nicht mehr so recht zu gelten. Besonders gut lässt sich das auf Social-Media-Kanälen beobachten. Unter dem Hashtag »That Girl« etwa filmen sich junge Frauen und dokumentieren akribisch banale, alltägliche Routinen – insbesondere ihre »gesunden Essensentscheidungen«. Stundenlang kann man sich Videos ansehen über die Vorteile von Zitronenwasser, veganer Ernährung, »moderatem« Kaffeekonsum, »grünen Smoothies«, »High Protein«-Vanilla-Pulver und »ästhetische« Essenszubereitung. Hier gilt nicht: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Die Devise der That Girls lautet: Fressen mit Moral!

Wobei die Vokabel »fressen« bereits auf eine recht unästhetische und daher wenig Social-Media-taugliche Art der Nahrungsaufnahme hindeutet und vermutlich durch einen Begriff wie »Food Care« ersetzt werden sollte. Denn »Good Food Choices« gehören ziemlich sicher ins Spektrum einer vernünftigen Self Care, zu der jede emanzipierte Frau fähig sein sollte.

Dieser Fürsorglichkeitsterror mit seiner gleichzeitigen Verdinglichung und kultischen Verehrung der Gesundheit spiegelt eine Gesellschaft, die es vordergründig gut meint und für ihre Mitglieder nur das Beste will. Folglich regieren in einer solchen Gesellschaft nicht die strengen »Herren«, die Spelunken-Jenny noch vor Augen hatte. Stattdessen sind flache Hierarchien und Empowerment angesagt. Es werden nur »Angebote« gemacht. So plaudert etwa eines der That Girls fröhlich in die Kamera: »Voll oft werde ich gefragt, wie lange ich mich schon vegan ernähre … schon seit 2015 … und ich liebe es. Ich würde nie wieder zurückgehen. Aber das ist natürlich eine ganz persönliche Entscheidung. Ich freue mich nur immer über jeden, der einfach sagt: Komm, ich probiere es zumindest mal aus … und schau, vielleicht schmeckt’s mir ja.«

Die sanfte Verordnung sich und anderen gefälligst Gutes zu tun, bezeichnet der italalienische Psychoanalytiker Massimo Recalcati als »Ideologie des Wohlbefindens«. Sie geht einher mit allerlei Anleitungen zur Selbstoptimierung und regiert in die intimsten Lebensbereiche hinein. Von der Ernährung, über den Schlaf bis zur Sexualität – alles geht besser, gesünder, erfüllter, glücklicher.

Die Unabschließbarkeit der Optimierung und auch die Unmöglichkeit ihren Anforderungen gerecht zu werden, verleihen den permanenten Wohlfühl-Appellen etwas Gnadenloses, gar Grausames. Kaum jemand verfügt über ausreichend Zeit und Geld, um die allgegenwärtigen, netten Self-Care-Programme überhaupt absolvieren zu können. Und emotional ist das Be-happy-Mantra ohnehin kaum zu bewältigen: Je bemühter man den Glücksimperativen folgt, desto gründlicher scheitert man daran und desto unglücklicher wird man am Ende. Je schneller man den Tiefschlaf erreichen will, desto schlafloser die Nacht. Je exzessiver die Beschäftigung mit dem Essen, desto ausgeprägter die Essstörung.

Spelunken-Jenny würde über all das vermutlich den Kopf schütteln und verächtlich lachen. Sie würde auf den Bürger zeigen, der sich am Monatsende von seinem Bürgergeld nichts mehr kaufen kann. Sie würde auf die Gehaltsabrechnung zeigen und vorrechnen, dass die Inflation den Mindestlohn verschlingt. »Wovon lebt der Mensch?«, würde sie die That Girls fragen.

Mit Spirulina-Tabs und Proteinpulver bräuchten sie ihr nicht zu kommen. »Erst muss es möglich sein auch armen Leuten / Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden«, würde sie entgegnen. Und insistieren: »Zuerst müsst ihr uns was zu fressen geben / Dann könnt ihr reden: Damit fängt es an.« Womit sie zweifelsfrei recht hätte. Allerdings: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Und in der Gesellschaft der Daueroptimierer wäre es nicht schlecht, sich gelegentlich daran zu erinnern, dass selbst dem Fressen Grenzen gesetzt sind. Ansonsten überkommt einen nämlich das große Kotzen.

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