Nach dem Erdbeben: »Erdoğan verdient an der Krise«

Koray Türkay von der Oppositionspartei HDP über die Lage in den kurdischen Erdbebengebieten

Eigentlich leben Sie in Istanbul. Nach den verheerenden Erdbeben vor sechs Monaten sind Sie umgezogen, richtig?

Genau. Ich bin direkt nach den Erdbeben im Februar nach Pazarcık gezogen. Das ist eine mehrheitlich kurdische Stadt direkt im Zentrum der Katastrophe, in der Provinz Kahramanmaraş. Dort koordiniere ich für die linke Oppositionspartei HDP (Demokratische Partei der Völker) Hilfsaktionen, um die Menschen vor Ort zu unterstützen.

Die mediale Aufmerksamkeit für die Krisenregion ist, zumindest in Deutschland, stark abgeebbt. Wie hat sich die Situation insbesondere in den kurdischen Gebieten entwickelt? Wo leben die Menschen, die ihre Häuser verloren haben, heute?

Die kurdischen Gebiete wurden besonders hart von den Erdbeben getroffen. Auch jetzt gibt es an vielen Orten immer noch kein sauberes oder überhaupt fließendes Wasser. Die Lage der Überlebenden hat sich kaum verbessert im vergangenen halben Jahr. Viele Kurden mussten ihre Heimatstädte verlassen und leben bis heute noch in den umliegenden Gebieten, entweder bei Freunden und Verwandten oder in Zeltstädten und Containern. Sie können nicht mehr zurückkehren. Ihre Leben sind bis heute zerstört, viele sind weiterhin auf die Hilfe anderer angewiesen, um zu überleben.

Wie haben sich die Bedürfnisse der Menschen dort seither verändert?

Interview

Koray Türkay ist Mitglied der linken Oppositionspartei HDP in Kadıköy, Istanbul, die sich für Minderheitsrechte, insbesondere von Kurden, einsetzt. Er schreibt außerdem für die prokurdische Zeitung »Yeni Yaşam«, die die AKP-geführte Regierung immer wieder zu schließen versucht.

Direkt nach den Beben brauchten die Menschen vor allem existenzielle Dinge zum Überleben: Wasser, Essen, saubere und warme Klamotten. Inzwischen brauchen sie aber vor allem eine Perspektive für die Zukunft, sie müssen ihr Leben wieder selbst bestreiten können und zu einem normalen Alltag zurückkehren. Unsere Hilfe kann ihnen das momentan nicht bieten.

Über die materielle Notlage hinaus hat die Katastrophe auch eine starke psychologische Belastung für die Überlebenden zu Folge. Wird dieses Thema mitbedacht, gibt es psychosoziale Hilfe vor Ort?

Ja, einige Organisationen bemühen sich darum, auch psychologische Hilfe zu leisten, insbesondere für Kinder, die das Trauma nur schwer verarbeiten können.

Der Regierung unter Führung der AKP wurde vorgeworfen, für das Ausmaß der Katastrophe eine Mitverantwortung zu tragen ...

Ja, der Staat und Firmen, die ihm nahe stehen, verdienen viel Geld damit, Wohnungen in sogenannten Mietzonen zu vermieten. Natürlich wusste der Staat schon vor den Erdbeben, dass viele der Orte, an denen gebaut wurde, nicht sicher waren – vor allem nicht für Hochhäuser. Dennoch wurden private Unternehmen von der Regierung beauftragt, dort zu bauen. Je höher die Häuser, desto mehr verdienen sie daran. Das sind genau die Gebäude, die während der Beben einfach in sich zusammengefallen sind.

Der Staat war nach den Beben durch die Polizei, das Militär und die Katastrophenschutzbehörde AFAD (Behörde für Katastrophenschutz und Notfallmanagement) präsent. Die Regierung geriet allerdings stark in die Kritik, besonders in den kurdischen Gebieten keine Hilfe geleistet zu haben. Können Sie diesen Eindruck bestätigen?

Die Menschen in Pazarcık erhielten so gut wie gar keine Hilfe von der Regierung. Dort konnten wir mit der HDP viel bewirken. Als die Regierung dann bemerkte, dass wir Hilfen organisiert hatten, schickten sie Soldaten mit Maschinengewehren, um die Hilfsaktion zu blockieren. Die AFAD hat sich damals hier nicht an der Suche nach Überlebenden beteiligt. Die Behörde war überhaupt nicht auf einen Katastrophenfall vorbereitet. Es gab keine Notfallpläne für Erdbeben, obwohl jeder weiß, dass die Türkei eine Erdbebenregion ist. Die AFAD ist eine staatliche Organisation, doch sie verhält sich wie ein Privatunternehmen. Sie arbeiten, um Profit zu generieren, nicht um zu helfen. Erdoğans Regierung hat sich an der Krise bereichert, indem sie Menschen, die gerade ihre Familie verloren hatten, Sachen verkaufte, die sie zum Überleben brauchten. Kızılay, das Türkische Rote Kreuz, hat unmittelbar nach den Beben Zelte an die Überlebenden verkauft. Es ist schwer, Menschen außerhalb der Türkei zu erklären, wozu diese Regierung fähig ist.

Also musste die Bevölkerung selbst Hilfe organisieren?

Viele verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen haben mit angepackt und die wichtigsten Arbeiten übernommen. Sie waren die ersten, die vor Ort waren. Die Regierung tat nichts – die Bevölkerung kümmerte sich eigentlich um alles selbst. In der Zeit der Erbeben hatte die türkische Regierung alle Konten der HDP blockiert, deshalb war es uns nicht möglich, direkt über die Partei Hilfen zu finanzieren. Allerdings gibt es starke Verbindungen zur Zivilgesellschaft vor Ort. Das ermöglichte uns, Hilfsaktionen für die Erdbebengebiete zu koordinieren. Alleine aus Istanbul konnten so mehr als 150 Lastwagen voll mit Sachspenden in die betroffenen Regionen fahren.

Und wie geht es jetzt weiter? Haben Sie die Hoffnung, dass bald wieder eine Art Normalität einkehrt?

Nein, von Normalität kann noch lange nicht die Rede sein. Aber die Zivilgesellschaft macht einfach weiter, etwas anderes bleibt uns gar nicht übrig.

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