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Dort, wo Geschichte passiert

Vor 75 Jahren erlebte Max Frisch den Kalten Krieg hautnah – nachzulesen in seinem »Tagebuch 1946–1949«

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 6 Min.
Frisch war Schweizer – also neutral. Beste Voraussetzung, um sich als Außenstehender den ganzen Irrsinn, der sich Weltlauf nennt, in aller Ruhe anzusehen.
Frisch war Schweizer – also neutral. Beste Voraussetzung, um sich als Außenstehender den ganzen Irrsinn, der sich Weltlauf nennt, in aller Ruhe anzusehen.

Dass das 20. Jahrhundert das Zeitalter der Ideologien war, hat man mittlerweile vergessen. Damals trat an die Stelle des Gottesglaubens der Glaube, man könne selber Gott spielen. Jede Gräueltat ließ sich auf diese Weise rechtfertigen und begründen – es geschah ja aus höheren Motiven heraus und diente dem Fortschritt. Also flogen, wo gehobelt wurde, nicht nur Späne. Doch nach dem Blutbad würde alles gut, ganz bestimmt.

Auch die Literatur ist davon nicht unberührt geblieben. Die Elogen auf Stalin, der als Heilsbringer gefeiert wurde, muten heute befremdlich an, ja, verstörend. Offensichtlich sind auch Schriftsteller gegen geistige Verdunklung nicht gefeit. Daher ist es eine Wohltat, das »Tagebuch 1946–1949« von Max Frisch zu lesen. Hier ist einer schon qua Herkunft – Frisch war Schweizer – neutral. Und das bedeutet: Man gehört nirgendwo richtig dazu, wird bestenfalls toleriert, aber nicht akzeptiert. Man macht sich verdächtig, weil man nicht Farbe bekennt. Beste Voraussetzungen, um sich als Außenstehender den ganzen Irrsinn, der sich Weltlauf nennt, in aller Ruhe anzusehen. Und zwar ohne Vor-Urteile, die nur die Wahrnehmung verzerren. Denn: »Wer eine Überzeugung hat, wird mit allem fertig. Überzeugungen sind der beste Schutz vor dem Lebendig-Wahren.«

Max Frisch jedoch ist ein Lebenshungriger, ein Wahrheitssucher. Kneipen, in denen Einheimische verkehren, zieht er dem offiziellen Besucherprogramm für Kongressteilnehmer vor. »Der Fahrer und ich warten in einer Pinte, trinken Schnaps und essen Aal; er redet wenig, dennoch erfahren wir viel. (…) Das Unwirkliche, dass man nach kollektiven Besichtigungen immer wie einen Schatten hinter sich fühlt, drängt mich in solche Pinten, drängt mich, unter Leuten zu stehen.« Dieser Schatten ist 1948 besonders dunkel. Es ist das Jahr, in dem die Fronten endgültig verhärten. Mit dem Februarumsturz beginnt in der ČSSR die Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei – der Eiserne Vorhang zieht sich zu. Vier Monate später wird in den westlichen Besatzungszonen die D-Mark eingeführt; die Sowjetunion reagiert darauf mit der Blockade Westberlins. Der Kalte Krieg droht heiß zu werden.

In einem derart angespannten politischen Klima vermag auch der »Weltkongress der Intellektuellen für den Frieden«, der im August 1948 in Wrocław (Breslau) stattfindet, keinen Frieden zu stiften. Gleich in der Eröffnungsrede sorgt der Vorsitzende des sowjetischen Schriftstellerverbands Alexander Fadejew für einen Eklat, indem er die Nobelpreisträger Eugene O’Neill und T.S. Eliot sowie die literarischen Schwergewichte John Dos Passos, André Malraux und Jean-Paul Sartre attackiert. Die drei Letztgenannten sympathisieren mit dem Kommunismus; Dos Passos und Malraux haben gar im Spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten gekämpft. Ihr »Vergehen«: Sie stehen dem Stalinismus kritisch gegenüber.

Das tun andere nicht. Einem deutschen Emigranten – »ein Literat, dessen brillante Vorträge über Thomas Mann in genauer Erinnerung sind« (es muss sich um Lion Feuchtwanger handeln) – bescheinigt Frisch, dieser habe sich »wacker entwickelt«. Was sarkastisch gemeint ist. »Torten essend, die vortrefflich sind, erklärt er mir den Unterschied zwischen bösem Terror und gutem Terror.« Bei solchen gedanklichen Verrenkungen verwundert es nicht, dass Frisch – wiewohl schon optisch Inbegriff des Intellektuellen – innerlich Abstand zu den hauptberuflichen Vertretern der geistigen Welt hält. »Wieso haben die Intellektuellen, wenn sie scharenweise vorkommen, unweigerlich etwas Komisches?«

Diese Distanz fällt ihm leicht. Bis zu seinem Durchbruch mit »Stiller« 1954 – da ist er bereits 43 Jahre alt – betätigt sich Frisch nur als Teilzeitschriftsteller. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Architekt. Er ist kein schlechter Vertreter seiner Zunft. Das von ihm gebaute Freibad Letzigraben in Zürich, das Wikipedia einen längeren Eintrag wert ist, steht heute unter Denkmalschutz. Frisch hat einen Blick für Räume und Bauten, und er versteht es, sie durch Worte sichtbar zu machen. Es ist eine sinnliche Erfahrung, mit ihm durch das von Deutschen zerstörte Polen zu gehen. Er beschreibt, was er sieht und wie es zustande kam. Mehr braucht es nicht, um Wirkung zu zeigen. Man schämt sich nach dem Lesen, Deutscher zu sein. Er schildert aber auch die Euphorie, mit der die Menschen in Polen auf den Trümmern – im wahrsten Sinn – etwas Neues aufbauen.

Zudem besucht Frisch schlesische Gehöfte. Das eine wird von 30 Familien bewohnt und bewirtschaftet (»Alles halb klösterlich, halb robinsonhaft«), das andere von einem früheren Landarbeiter in Preußen, der den Ehrgeiz hat, genauso effektiv zu wirtschaften wie sein ehemaliger Junker. Und beide Ansätze – das freiwillige Kollektiv und der Einzelunternehmer – faszinieren ihn. Dass die zentralistische Planungswut von Apparatschiks beiden Modellen den Garaus bereitete, gehört zur Tragik einer Politik, die alles anders machen wollte und am Ende im bürokratischen Realsozialismus landete.

Aber hätte es anders kommen können? Frisch zitiert Churchill, »man solle das Geschehene jetzt endlich geschehen sein lassen«. Eine unfassbare Aussage angesichts der deutschen Massaker. Natürlich weiß Frisch, wie es zu so viel historischer Ignoranz kommen konnte: »Leider ist es ja so, dass das ›Geschehene‹, noch bevor es uns wirklich und fruchtbar entsetzt hat, bereits überdeckt wird von neuen Untaten, die in uns in einer willkommenen, einer fieberhaften und mit verdächtigem Eifer geschürten Empörung vergessen lassen, was Ursache und Folge ist.« Und er fügt hinzu: »Das Geschehene endlich geschehen sein lassen! (…) Das alles darf der Erschütterte sagen, nur der Erschütterte.«

Der Erschütterte aber ist gar nicht in der Lage, die Erschütterung zu verdauen. Frisch erzählt von seiner staatlichen Betreuerin beim Weltkongress, einer Dolmetscherin, die durch die Deutschen ihre Eltern, ihren Bruder und ihren Mann verloren hat. Sie spricht ein »fehlerloses Deutsch, das sie von Herzen hasst«. Doch für die Trauma-Verarbeitung fehlt die Zeit; »so viel muss jetzt getan werden, dass die Leute, die dieses Viele auf den Schultern haben, nicht verweilen können bei Entscheiden, die schon getroffen sind.« Und auf einmal begreift man, dass nicht nur die Täter, die Deutschen, sich nach dem Krieg in die kollektive Verdrängung flüchteten, sondern auch deren Opfer.

Die Plattitüde »Das Leben muss ja irgendwie weitergehen« füllt Frisch genau damit: mit Leben. Sein »Tagebuch 1946–1949« – zunächst eine Wundertüte aus literarischen Skizzen für spätere Werke sowie Gedanken und Beobachtungen aus dem Alltag – entwickelt sich 1948 zum packenden Zeitdokument. Frisch ist dort, wo Geschichte passiert, in Wien, Prag, Berlin, Warschau. Er begegnet Bertolt Brecht, Pablo Picasso und Thornton Wilder. Vor allem aber trifft er auf Menschen, die in Geschichtsbüchern nicht vorkommen. Er erzählt, wie das Leben zwischen Weltkrieg und Kaltem Krieg seinen Lauf nimmt. »Lauf« ist dabei wörtlich zu verstehen. Alles geschieht rasend schnell – reflexhaft statt reflektiert. Und ehe man sich’s versieht, ist die Welt eine andere geworden. Wege, die 1945 noch möglich schienen, sind drei Jahre später verbaut. Das alles beschreibt er derart plastisch und lebendig, dass man sich staunend fragt: Warum wird Max Frisch eigentlich nur im Deutsch- und nicht auch im Geschichtsunterricht gelesen?

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