Alte Verteilungskämpfe, neu aufgelegt

Ein Forschungsprojekt analysiert die Transformationen des Sozialstaats und vernetzt sich dafür mit prekär Beschäftigten und Erwerbslosen.

  • Lukas Geisler
  • Lesedauer: 6 Min.
Ganz oben auf der Liste der sozialstaatlich unterstützten Prekarisierung: die Tätigkeit der Reinigungskraft
Ganz oben auf der Liste der sozialstaatlich unterstützten Prekarisierung: die Tätigkeit der Reinigungskraft

Hier werden vier Sprachen gesprochen: Deutsch, Englisch, akademisch und aktivistisch», beginnt Peter Birke, Soziologieprofessor in Göttingen, einen der letzten Vorträge der Konferenz «Für, gegen und darüber hinaus. Aktuelle Auseinandersetzungen um den Sozialstaat in Deutschland» am 18. November. Für die ersten beiden Sprachen gibt es eine Simultanübersetzung. Im Publikum: vor allem forschende Aktivist*innen und aktivistische Akademiker*innen, aber auch nicht-akademische Aktivist*innen und Marginalisierte. Also genau jene, die sich an der Schnittstelle von Sozialstaat und Migrationsregime tagtäglich in den Kämpfen um Teilhabe – auf unterschiedliche Weise – engagieren.

Birke berichtet von seiner Studie «Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland», in der er Arbeitsprozesse und Arbeitskämpfe im Online-Versandhandel und in der Fleischindustrie von 2017 bis Mitte 2021 beobachtet hat. Mit ihm auf dem Podium sitzt Josie Hooker von der Universität Bath, die für ihre Promotion Reinigungskräfte im Vereinigten Königreich begleitete. Beide arbeiten heraus, dass sowohl der Sozialstaat als auch der Arbeitsprozess gerade in diesen Branchen multipel prekär gestaltet wären, da hier prekäres Aufenthaltsrecht und prekäre sozialstaatliche Leistungen zusammenkommen würden.

Was ist «das Soziale»?

Die Konferenz, die den Auftakt des Forschungsprojektes «Auseinandersetzungen um ›das Soziale‹» bildet, fand am 17. und 18. November im PA58, einem selbstverwalteten Hausprojekt in der Prinzenallee 58 in Berlin-Wedding statt. In dem ehemals besetzten Haus leben und arbeiten rund 100 Menschen. Es gehört damit zu den vier größten Selbsthilfeprojekten Berlins und richtet den Blick genau auf das, worauf es dem Forschungsprojekt ankommt: das Tun des Sozialstaates. Dieses Tun richte sich nicht an alle Menschen gleichermaßen. Es setze sie «in unterschiedliche Verhältnisse zueinander, zu sich selbst, zum Staat und zum globalisierten Arbeitsmarkt», wie Lisa Riedner, Leiterin des Forschungsprojektes, ausführt: «Sozialregime prägen Alltagskulturen und Vorstellungen von Gesellschaft, Wirtschaft und Individuum grundlegend. Gestaltung, Praktiken und Institutionen des Sozialstaats sind das Ergebnis historischer Kämpfe und auch heute Bezugspunkt sozialer Bewegungen.»

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Die erste Projektphase, die von 2022 bis 2026 läuft, besteht aus drei Teilprojekten, die in Berlin, Oldenburg und Frankfurt am Main aktiv sind. In einer zweiten Phase danach soll eine transnationale, vergleichende Perspektive mit zwei Teilprojekten in Großbritannien und den USA eröffnet werden. Angesiedelt ist «Auseinandersetzungen um ›das Soziale‹» an der Ludwig-Maximilians-Universität München und wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert.

Die Leiterin Lisa Riedner begleitet die erwerbslosen-Initiative BASTA!, die sich aus Erwerbslosen, Beschäftigten mit geringem Einkommen und Studierenden mit wenig Geld zusammensetzt. Mehrmals wöchentlich öffnen die Aktiven ein Beratungscafé, um Fragen über das Bürgergeld zu klären – und das auf Italienisch, Griechisch, Englisch und Deutsch. Auch Kampagnen und Schulungen führt die Gruppe durch.

Projektmitarbeiterin Valentina Moraru, die sich mit Migration, Moral und Differenzierungsprozessen im Kontext von prekären Arbeitsverhältnissen auseinandersetzt, begleitet die Projektpartnergruppe der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO). ALSO ist eine der ältesten unabhängigen Erwerbsloseninitiativen in Deutschland, die seit den 1980er Jahren Personen berät, die sich mit verschiedenen Behörden auseinandersetzen müssen. Drei Mal in der Woche bietet die Initiative kostenlose Sozialberatung an.

Project Shelter, das der Projektmitarbeiter Tim Herbold mitgegründet hat, setzt sich aus Personen mit und ohne Flucht- und Migrationserfahrung zusammen. Ziel ist es, die Rechte obdachloser Migrant*innen und Geflüchteter in Frankfurt am Main zu erkämpfen, zu schützen und die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse zu garantieren. Dazu gehört die Vermittlung von Wohnraum, die Bereitstellung von Fahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr sowie die Finanzierung von Lebensmitteln, Medikamenten und Kleidung.

Kämpfe als Antriebsmomente

Ziel des Forschungsprojektes sei, folgt man Tim Herbold, «Sozialstaatsforschung zu migrantisieren und Migrationsforschung zu entmigrantisieren». Es soll, so der Anspruch, ein konzeptionelles Werkzeug entwickelt werden, um beschreiben zu können, wie ›das Soziale‹ zwischen verschiedenen Politikfeldern, wie Sozialstaat, Familie, Arbeit und Migration, sozialen Bewegungen und alltäglichen Handlungen kontinuierlich verändert wird.

«Dabei sehen wir Konflikte und soziale Kämpfe sowohl als zentrale Antriebsmomente wie auch als methodologisches Instrument», führt Lisa Riedner aus und erklärte weiter: «Durch unseren bewegungsbasierten ethnografischen Ansatz wollen wir neue Reflektionsansätze ermöglichen, die sowohl für soziale Bewegungen wie wissenschaftliche Analysen relevant sind.» «Zentral dabei ist», sagt Valentina Moraru, «dass wir zu der Arbeit unserer Projektpartner mit unserer Zeit, unseren Ressourcen und Wissen beitragen.» Dabei würden Grundsätze der gegenseitigen Hilfe, Positioniertheit, Verantwortlichkeit und Koproduktion von Wissen eine gewichtige Rolle spielen.

Gerahmt wurde die Konferenz, die vielen Akteur*innen aus der politischen Praxis eine Bühne bot, von Vorträgen von hochkarätigen Wissenschaftler*innen. Die australische Sozialwissenschaftlerin Melinda Cooper übte eine feministische Kritik an den Wohlfahrtsstaatsregimen des Keynesianismus bis zum Öl-Schock 1974 und des darauffolgenden Neoliberalismus. Die kritische Migrationsforscherin Manuela Bojadžijev hob die europäische und transnationale Dimension von Sozialstaatsregimen hervor. Veronika Zablotsky, Politische Theoretikerin und Mitgründerin des Abolition Beyond Borders Collective, stellte in ihrem Input die radikale Kritik abolitionistischer Perspektiven vor.

Bestimmungsproblem Sozialstaatsregime

Der Elefant im Raum war dabei klar die Ausformulierung dessen, wie das aktuelle Sozialstaatsregime konkret zu fassen ist. Zwar sind sich alle einig, dass das Sozialstaatsregime Einschlüsse, Ausschlüsse und Hierarchisierung produziert, und können präzise die unterschiedlichsten Modi durch spezifische Praktiken benennen. Aber ohne das Sozialstaatsregime auf den Punkt, auf einen Begriff oder eine Formel zu bringen, verbleibt die Analyse – ob nun bei Akademiker*innen oder Aktivist*innen – auf dem Level der Aufzählung von Praktiken der Hierarchisierung, des Zugangs und des Ausschlusses.

Durch die breite Rezeption des griechisch-französischen Staatstheoretikers Nicos Poulantzas ergibt sich allerdings eine anschlussfähige Diskussion, die unter anderem von dem Politikwissenschaftler Alex Demirović geführt wurde und vielversprechende Ansatzpunkte und Weiterentwicklungsmöglichkeiten – gerade für diese Begriffsarbeit – bieten könnte. Schon Poulantzas begriff den Staat als verdichtetes Kräfteverhältnis, in das sich die sozialen Kämpfe einschreiben, auch bei ihm werden die praktischen Auseinandersetzungen als Antriebsmomente darin begriffen. Ob das Forschungsprojekt an seine Analyse anschließen wird oder bessere Wege findet, müssen die nächsten Jahre der Forschung zeigen.

Gerade für die politische Praxis könnte sich eine solche Begriffsbildung nämlich als fruchtbar erweisen. Durch sie könnte es beispielsweise möglich sein, Kämpfe wie die von BASTA!, ALSO und Project Shelter trotz ihrer Unterschiedlichkeit zusammenzudenken und zu verbinden. Das wiederum könnte die Kämpfe um das Soziale schlagkräftiger machen und die Möglichkeit bieten, neue Perspektiven solidarischer Sicherungssysteme jenseits von Nationalstaatlichkeit zu entwickeln. Ein erster Schritt in die richtige Richtung wurde durch die Vernetzung der Basisgruppen auf der Konferenz bereits gemacht – weitere müssen folgen.

Übersetzungsarbeit

Aktualität hat das Forschungsprojekt allemal. Gegenwärtig werden die Kämpfe um soziale Teilhabe und Verteilungsfragen wieder verstärkt geführt, angesichts Inflation und Energiearmut, aber auch der sich verschärfenden Asylgesetzgebung und der Klimakrise. Die richtigen Instrumentarien für die Verknüpfung von kritischer Migrations- und Sozialstaatsforschung, die über Policy-Analysen hinausgehen, werden also dringender denn je gebraucht.

Doch wenn ein solches anspruchsvolles Forschungsprogramm gelingen soll, eine ethnographische Analyse des Sozialstaatsregimes zu entwickeln, darf es an der Übersetzungsarbeit nicht mangeln. Konkret gesagt: Wie kann die Übersetzung von «aktivistisch» auf «akademisch» (und andersherum) gelingen? Wir können also in mehrfacher Hinsicht gespannt sein, was das Forschungsprojekt «Auseinandersetzungen um ›das Soziale‹» für Erkenntnisse bringt – und in welchen Sprachen diese dann genutzt werden können.

Zum Weiterlesen:
Forschungsprojekt «Auseinandersetzungen um ›das Soziale‹»: www.thesocial.ekwee.lmu.de
Erwerbslosen-Initiative BASTA!: www.bastaberlin.de
Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg: www.also-zentrum.de
Project Shelter: www.projectshelterde.noblogs.org
Abolition Beyond Borders Collective: www.abolitionismus.org

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal