Anton Jäger: Post? Anti? Hyper, hyper!

Ist jetzt alles politisch? Der Ideenhistoriker Anton Jäger beschäftigt sich mit der »Hyperpolitik« unserer Zeit

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 5 Min.

Die eigene Gegenwart auf einen Begriff zu bringen, ist seit jeher eine beliebte intellektuelle Übung. An bedeutungsschweren Schlagworten kann man sich gut und gerne stoßen, als Erstsemester sich diese einverleiben oder aus Prinzip ablehnen. Der belgische Historiker Anton Jäger, Jahrgang 1994, regelmäßiger Autor beim »Jacobin«-Magazin, versucht in einem Essay unsere Zeit als die der »Hyperpolitik« zu verstehen. Das Wörtlein kommt von Peter Sloterdijk, dem geht es aber mehr um philosophische Fantasien. Jäger, so viel vorweg, ist ein lesenswertes Buch gelungen, das mit Tempo und gut gewählten Beispielen einen interessanten ideengeschichtlichen Ritt bietet; etwas mehr Wirtschaftsgeschichte und Empirie hätten dem Text aber auch nicht geschadet.

Wie weiterzumachen wäre für eine bessere, freiere, gerechtere Zukunft, das weiß er den desorientierten Linken auch nicht so recht zu sagen – außer: Organisiert euch (vielleicht)! Denn mit Friedrich Engels sei erinnert, dass die Konservativen und die Kapitalisten in ihren Eliteeinrichtungen und Korporationen dies immer schon sind.

Ein Partyfoto von Wolfgang Tillmans aus dem Jahre 1989 ist Ausgang für Jägers Überlegungen. Das Jahrzehnt, das auf den Schnappschuss inniger Sorglosigkeit folgen sollte, wird, nicht nur von Jäger, als postpolitisch bezeichnet. Man wollte die »Geschichte einfach wegtanzen«, der Kalte Krieg war offiziell aus, Ideologien angeblich gescheitert, die Systemfrage stellte sich nicht mehr: Ab ins Private, Spaß haben! Die neoliberale Auflösung der Gesellschaft war zwar schon im vollen Gange, aber es gab ja noch Fernsehen statt Facebook, Gameboys statt Smartphones. Sicherlich drängt sich diese Sicht jungen Westeuropäern auf, denn die »Schock-Therapie«, die die Menschen in der ehemaligen Sowjetunion erfuhren, der Raubzug der Treuhand in Ostdeutschland, das ist doch eher ursprüngliche Akkumulation.

Nun, vor der Postpolitik herrschte vom späten 19. Jahrhundert bis ungefähr 1990 die Massenpolitik: Man hielt (eher noch) zusammen in großen Verbänden, das Leben des Einzelnen war institutionalisiert, man kannte seine Welt, war in der Arbeiterbewegung, einer Volkspartei, der Kirche, »die Politik war in eine breite und tief gestaffelt organisierte Landschaft eingebettet«. Aber in der zweiten Hälfte ging es Gewerkschaften, in USA und UK etwa, durch »Union Busting« an den Kragen; Parteien koppelten sich von der Bevölkerung ab, so Jäger, und brauchten PR-Agenturen, um zu wissen, was ihre Wähler denken – und nutzten sie dann vielleicht auch vermehrt, um ihnen versuchsweise vorzuschreiben, was sie denken sollten, könnte man ergänzen.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Nach der Postpolitik kam die Antipolitik: Globalisierungsgegnerschaft, das Gespenst des Populismus prägten die späteren Nuller- und 2010er Jahre. Es wird politisiert von Menschen, die (vorgeblich) keine Politiker sein wollen, es geht (angeblich) um Werte statt Ämter. Man empört sich, ist entrüstet, hat aber keine Ideologie mehr parat. Der Neoliberalismus bleibt dominant, gilt aber nicht mehr als okay. Trump gibt sich genauso antipolitisch wie einstmals Syriza. Es ist ein Durcheinander. Und in Jägers Essay werden die genannten »Politiken« auch nicht so strikt getrennt. Er weiß um den hohen Grad an Abstraktion, die Gefahr des Schematismus, dass man dem Lokalen so nicht gerecht wird.

Trotzdem ist es einsichtsreich, diesen groben Zügen zu folgen, denn Jäger schafft Zusammenhänge, kritisiert scharf und schreibt klar. Dabei zieht er so unterschiedliche andere Denker heran wie den Zeichen- und Endzeitphilosophen Jean Baudrillard, den zynischen Romancier Michel Houellebecq oder den amerikanischen Soziologen Robert D. Putnam, der in seinem Buch »Bowling Alone« anhand einer beliebten Freizeittätigkeit über das Verschwinden sozialen Kapitals in den USA nachdachte.

Heute, in Zeiten der Hyperpolitik wird laut Jäger schlichtweg alles als politisch bezeichnet: Ernährungsvorlieben, Kleiderwahl. Die Kommunikationsformen der sozialen Netzwerke tragen dazu bei, dass jede noch so kleine, allgemeine, gleich vergessene schriftliche Mitteilung als politische Äußerung begriffen werden kann. Dabei werden die Wünsche der Diskursbeiträger, unbezahlte oder bezahlte, nicht erhört.

Ein großes kritisches Bewusstsein ist über die Welt gekommen, verändern kann es sie aber nicht. Selbst jene Kritik an den Verhältnissen, die es auf die Straße schafft, etwa Fridays for Future, Black Lives Matter oder Deutsche Wohnen & Co. enteignen, verschwindet schwuppdiwupp, ohne nachhaltig etwas ausgerichtet zu haben ... Die Gentrifizierung hält an, die Polizeigewalt gegen Schwarze; Klimaziele sind angesichts internationaler Kriege wieder zweitrangig, denn »Hyperpolitik ist zuallererst eine eminent marktkonforme Variante der Politik, sowohl ihrer Form als auch ihrem Inhalt nach. Märkte bieten Exit-Optionen und sind ihrem Wesen nach auf Kurzfristigkeit angelegt.« Jäger konstatiert, dass in der politischen Öffentlichkeit »unkontrollierbare Zuckungen auftreten«, sich aber keine »dauerhaften Infrastrukturen herauskristallisieren«. Hyperpolitik bietet nur eine kurze »Neuverzauberung des öffentlichen Lebens«.

Wir wissen von Rio Reiser: »Allein machen sie dich ein.« Sprechen Sie doch mal Fremde (freundlich) beim Bowling an, helfen Sie den Alten und Schwachen in der Nachbarschaft, treten Sie einem Sportverein bei und lassen Sie Ihrem Frust auf Arbeit verbal freien Lauf, wenn mal wieder alle so tun, als ob sie nicht den halben Tag jahrelang zusammen am selben Ort verbringen. Man muss nach den »archimedischen Orten« suchen, meint Jäger, wo »gemeinsame Anliegen offenkundig sind«. Schauen wir mal.

Anton Jäger: Hyperpolitik. A. d. Engl. v. Janser, Geiselberger, Zimmermann. Suhrkamp, 136 S., br., 16 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal