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Aufbruch mit Selbstreflexion
nd-Serie »Die Linke – vorwärts oder vorbei?«: Die Verantwortung der Linkspartei geht weit über ihre Existenzsicherung hinaus
Kern der aktuellen Strategie, Die Linke wieder stark zu machen, ist die neue Gesprächsoffensive, auch als Haustürkampagne bezeichnet, die sich bereits reger Teilnahme erfreut. Sie zeigt, dass Die Linke die Partei ist, die weiß, dass die eigentliche Macht auf der Straße und bei den Menschen liegt, nicht in den Staatsinstitutionen. Auch wenn diese Offensive Teil des Vorwahlkampfes ist, ist allen Beteiligten klar, dass es dabei um mehr geht als ein gutes Wahlergebnis. Zudem liegt hier eine gute Möglichkeit, das Potenzial der neuen Mitgliederstärke effektiv zu nutzen.
Gleichzeitig spielt das Selbstverständnis dieser Kampagne eine wichtige Rolle. Das Motto der Kampagne lautet: »Alle reden, wir hören zu.« Es soll darum gehen, sich der konkreten Probleme der Menschen anzunehmen, an die Alltagssorgen anzuknüpfen und unbürokratische Hilfe zu leisten. Diesem Zweck sollen über die Kampagne hinaus auch Sozialsprechstunden, Mietberatungen usw. dienen. Dies spiegelt gängige Idealvorstellungen einer Linken als »Helferpartei« wider. Auch wenn all das gut gemeint sein mag, liegt hier eine gewisse Paternalismus-Gefahr.
Es war stets die Stärke des Marxismus, dem Proletariat zu verdeutlichen, dass es der wahre Motor der Gesellschaft ist, ohne den alles stillsteht. Zu sehr auf der Hilfsbedürftigkeit derjenigen herumzureiten, die am meisten unter den kapitalistischen Verhältnissen zu leiden haben, kann diesen emanzipativen Charakter linker Politik in den Hintergrund rücken lassen.
Um das Problem einer Linken, die sich im Kern als Helfer- und Kümmererpartei versteht, mit Adorno und Horkheimer auf den Punkt zu bringen: »In der Tat hat Mitleid ein Moment, das der Gerechtigkeit widerstreitet ... Es bestätigt die Regel der Unmenschlichkeit durch die Ausnahme, die es praktiziert ... Nicht die Weichheit, sondern das Beschränkende am Mitleid macht es fragwürdig, es ist immer zu wenig.«
Nils Dietrich, 22 Jahre alt, studiert in Halle Politikwissenschaft und Soziologie. Seit drei Jahren ist er Mitglied der Linkspartei.
Ähnliche Bedenken wurden auch geäußert, als wir dieses Thema in unserem Ortsverband der Linksjugend diskutiert haben. So kam die rhetorische Frage auf, ob wir denn nun eine Partei oder eine Nichtregierungsorganisation seien.
Oft wird als Problem diagnostiziert, dass wir – in Gregor Gysis Worten – »die Partei der 1000 kleinen Dinge« seien und uns mehr auf bestimmte linke Kernthemen konzentrieren sollten. »Die Partei kann nicht weiter auf allen Hochzeiten tanzen, ohne dabei an Glaubwürdigkeit einzubüßen«, schrieben beispielsweise zwei Mitglieder des Bundessprecher*innenrats der Linksjugend in einem Artikel über die Parteistrategie. Man erhofft sich dadurch auch eine stärkere mediale Schwerpunktsetzung von links.
Dies geht oftmals mit der Wahrnehmung einher, dass es linke Gewinner- und Verliererthemen gibt. Im Kommunal- und Europawahlkampf in Sachsen-Anhalt habe ich erlebt und auch Berichte in der darauffolgenden Auswertung gehört, wie europapolitische Themen von Parteimitgliedern eher umschifft wurden, auch weil sie bei vielen großen Fragen nicht das Gefühl hatten, dass die eigene Partei hier wirklich gute Antworten hätte. Einige hatten sich auch in Wahlkampfgesprächen damit abgefunden, dass das Gegenüber Die Linke auf Europa- oder Bundesebene nicht wählen würde, versuchten jedoch, die Leute von einzelnen kommunalen Projekten der Linken in Halle zu überzeugen.
Dies versinnbildlicht eher eine Linke, die ihr Selbstbewusstsein verloren hat, als dass hier eine Erfolgsstrategie verborgen läge. Dass es manchmal so wahrgenommen wird, dass wir bei Themen wie Migration oder dem Ukraine-Krieg nur sehr begrenzt eine wünschenswerte alternative Perspektive anbieten können und diese Themen deshalb eher als linke Verliererthemen erscheinen, liegt nicht daran, dass wir diese Alternativen nicht im Kopf hätten. Ich glaube, der Grund ist eher, dass wir uns nicht trauen, sie deutlich genug auszusprechen. Der linke Traum von einer Welt ohne Nationalstaaten und Ausbeutung erscheint uns so fern und unerreichbar, dass wir nur noch murmelnde Andeutungen in diese Richtung machen. Und doch ist und bleibt er das Patentrezept für den Weltfrieden und die Aufhebung aller ethnischen Konflikte.
In Wahrheit hätten auch diese Themen das Potenzial, linke Gewinnerthemen zu sein, wenn wir nur den Mut hätten, sie inhaltlich offensiv und ohne Blatt vor dem Mund anzugehen.
Ich glaube nicht, dass Die Linke durch Fokussierung auf wenige Kernthemen wieder zum medialen Trendsetter wird. Es ist nichts falsch daran, dass eine Linke, die das Selbstbewusstsein einer ernstzunehmenden politischen Partei hat, sich zu allen politisch relevanten Themen klar und deutlich äußert.
Unser inhaltlicher »Blumenstrauß« und unser »Getanze auf allen Hochzeiten« erscheinen nur dadurch als solche, weil die Vision, die hinter all diesen inhaltlichen Positionierungen steht und sie tatsächlich zu einem einzigen Kernanliegen verbindet, nicht deutlich genug wird, wodurch wir bei all unseren scheinbar freischwebenden Einzelpositionen als »Partei der 1000 kleinen Dinge« erscheinen.
Die AfD hat in den vergangenen Jahren mit Provokationen und dem bewussten Überschreiten roter Linien das gesellschaftliche Verständnis dessen, was als gesunder Kompromiss wahrgenommen wird, massiv nach rechts verschoben. Das Ergebnis sehen wir, wenn heute selbst die SPD daran arbeitet, Deutschland abzuschotten und die Grünen als Regierungspartei unschlüssig daneben stehen.
Die Linke wird hier nur eine gesellschaftliche Kehrtwende erreichen und auf die wahren Problemursachen aufmerksam machen können, indem sie glasklar Flagge zeigt. Hier darf auch keine Scheu bestehen, unliebsame und radikale Positionen deutlich zu vertreten. Um medial eigene Schwerpunkte zu setzten, gilt hier auch das Prinzip »bad publicity is good publicity«. Solche Herangehensweisen wurden jedoch beispielsweise beim Europawahlkampf mit größter Vorsicht umgangen, aus Angst, Wähler abzuschrecken. Das Wahlprogramm las sich für etwas erfahrenere Linke als Sammlung von Andeutungen und Augenzwinkern.
Ein schwieriges Thema, um das beim Bundesparteitag sehr gerungen wurde, war die Positionierung der Linken zum Ukraine-Krieg. Ich habe weiter oben geäußert, dass auch dieses Thema das Potenzial zu einem linken Gewinnerthema hätte, wenn es richtig angegangen wird. Nun fällt es nicht leicht, die Brücke vom oben beschriebenen abstrakten linken Internationalismus zu dieser konkreten Situation zu schlagen. Ich kenne viele Menschen, die Die Linke grundsätzlich gut finden, jedoch wegen der Haltung der Partei zum Ukraine-Krieg ihr gegenüber unentschlossen sind, weil sie eine uneingeschränkte Unterstützung der Ukraine befürworten. Ich kann diesen Gedanken nachvollziehen. Und Die Linke hat nie in irgendeiner Form die Verwerflichkeit des Angriffskriegs von Russland relativiert.
Was bei dieser Frage oft vergessen wird, ist, dass zwar der Westen die Ukraine unterstützt, jedoch ein Großteil der internationalen Staatengemeinschaft, vor allem der Globale Süden, bei dieser Angelegenheit tatenlos zusieht. Russland und China schaffen es, ein Narrativ zu verbreiten, das lautet: »Der Westen hat uns alle jahrhundertelang unterdrückt und wir lehnen uns jetzt dagegen auf«, was bei vielen Ländern des Globalen Südens verfängt, die sich damit aus gutem Grund identifizieren können. War das nicht einst eine linke Position? Holen wir sie uns zurück!
Wenn der Westen ordentlich mit seiner kolonialen Vergangenheit aufräumen würde und aktiv an einer gerechten, vor allem nicht westlich dominierten Weltwirtschaftsordnung mitarbeiten würde, wäre es für den Westen auch möglich, ohne Doppelmoral klar zu fordern, dass alle, die selbst Opfer von westlichem Kolonialismus und Imperialismus geworden sind, sich jetzt konsequenterweise mit der ebenfalls von Imperialismus geplagten Ukraine solidarisieren sollten. So ließe sich die Weltgemeinschaft viel eher dafür gewinnen, geeint Druck auf Russland ausüben, als dies jetzt der Fall ist. Wir Linken sind die einzige Kraft im Westen, die stets gegen westliche Hegemonie, für eine gerechtere Weltordnung und damit auch für einen Westen gekämpft hat, der glaubwürdig den Imperialismus anderer kritisieren kann.
Die Linkspartei steckt tief in der Krise, braucht neues Führungspersonal und dringend einen neuen Aufbruch. Aber wie und wohin? »nd« startet eine Debattenserie über Probleme und Perspektiven: »Die Linke – vorwärts oder vorbei?« Alle Texte der Serie finden Sie hier.
Aber was jetzt passiert – Streichung von Entwicklungshilfe, eine Festung Europa gegenüber Migranten usw. –, bestätigt doch nur das Narrativ des oppressiven, hegemonialen und egoistischen Westens. All das sind kleine Bausteine, die dazu beitragen, dass Russlands Angriffskrieg in der Welt als gerechter Kampf gegen die westliche Vorherrschaft wahrgenommen wird. Auch auf diesen Zusammenhang muss Die Linke stärker hinweisen, wenn sie gegen all diese Ungerechtigkeiten ankämpft.
Aktuell hat der Westen einen Tunnelblick, der nur aufs Schlachtfeld gerichtet ist. Daher fallen ihm auch nur militärische Lösungen ein. Wir Linken sind diejenigen, die den Blick weiten und internationalistisch sowie global denken können.
Es ist durchaus möglich, eine linke Friedenspolitik zu entwickeln, die weder Russlands Angriffskrieg relativiert, noch in immer mehr Militarismus die Lösung sieht.
Der Ukraine-Krieg ist ein Beispiel von mehreren, bei denen der notwendige Klärungs- und Findungsprozess unserer Partei noch nicht abgeschlossen ist. Es gilt gemeinsam voranzuschreiten und zugleich kritisch an einem erneuerten Selbstverständnis zu arbeiten. Die aktuelle Verantwortung der Linken geht weit über ihre eigene Existenzsicherung hinaus.
In der nd-Serie »Die Linke – vorwärts oder vorbei?« erschien zuletzt: »Eine Partei wirklich neuen Typs« von Peter Porsch (»nd.DerTag« vom 17.10.2024).
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