Die vergessene Mittelschicht

Wer nur die Kluft zwischen Arm und Reich anprangert, vergisst einen wichtigen Wunsch: den nach einem Eigenheim

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 5 Min.
So stellte sich die SPD in den 70er Jahren ein modernes Eigenheim vor. Aber nur, wenn sie den Bundeskanzler stellte: Ein Blick in den – staatlichen – Kanzlerbungalow in Bonn.
So stellte sich die SPD in den 70er Jahren ein modernes Eigenheim vor. Aber nur, wenn sie den Bundeskanzler stellte: Ein Blick in den – staatlichen – Kanzlerbungalow in Bonn.

Für Karl Marx war die Sache klar: Es gab Ausbeuter und Ausgebeutete. Erstere besaßen die Produktionsmittel, Letztere nur ihre Arbeitskraft, die sie zu einem Hungerlohn verkaufen mussten. Den Mehrwert, den sie erwirtschafteten, sackte der Fabrikbesitzer ein, wodurch dieser immer reicher wurde, während die Schuftenden arm blieben. Unter diesen Verhältnissen schien es nur eine Frage der Zeit, bis die Geknechteten auf die Barrikaden gehen würden.

Aber Marx hatte die Rechnung ohne die Sozialdemokratie – die Rehaklinik des Kapitalismus – gemacht. Indem sie die Geschundenen aufpäppelte, sorgte sie dafür, dass diese ihr Leben nicht länger als unerträglich empfanden, sondern als halbwegs okay. Darunter litt der revolutionäre Elan. Mit vollem Bauch im Schrebergarten oder gar Reihenhaus war die Bereitschaft gering, einen Aufruhr anzuzetteln. Das Klassenbewusstsein schwand. Ja, die Klassen selbst mutierten zu Schichten, deren Übergänge zunehmend verschwammen. Der Facharbeiter und die Büroangestellte empfinden sich schon lange nicht mehr als Proletarier, sondern als Teil der Mittelschicht.

Wo diese genau anfängt und aufhört, ist häufig Auslegungssache. Ausgerechnet der »Stern« – nicht unbedingt als klassenkämpferisches Presseorgan bekannt – machte vor seiner Haustür in Hamburg die Entdeckung, dass die Schere zwischen Arm und Reich auseinanderging. Man hatte nämlich festgestellt, dass binnen einer Generation typische Mittelschichtsstadtteile sozial abgestiegen waren, während andere (allerdings deutlich weniger) eine Gentrifizierung durchlaufen hatten. Das war Ende der 90er.

Seitdem ist ein gutes Vierteljahrhundert vergangen. Zahlreiche linke Politiker und nicht ganz so linke Medien haben sich dem Befund des »Stern« angeschlossen und werden nicht müde, die wachsende ökonomische Kluft anzuprangern. Doch die Empörung über diese Ungerechtigkeit mag sich im Volke nicht so recht einstellen. Ein Fall von kognitiver Dissonanz. Denn das Zahlenmaterial deckt sich nicht mit dem persönlichen Empfinden vieler Menschen, vor allem Westdeutscher.

Dies liegt daran, dass in der alten Bundesrepublik unter dem Begriff Mittelschicht etwas völlig anderes verstanden wurde als heute. Eine Familie, die Mitte der 70er zur Mittelschicht gehörte, besaß ein einziges Auto, häufig einen VW Käfer, also ein Fahrzeug, das weniger Platz bot als der aktuelle VW Polo. Unter diesen beengten Verhältnissen fuhr man einmal im Jahr in den Spanien- oder Italien-Urlaub – eine Flugreise wäre zu teuer gewesen. Das Warenangebot in Supermärkten umfasste nur einen Bruchteil des jetzigen. Für exklusivere Lebensmittel musste man teure Feinkostläden oder Reformhäuser aufsuchen.

Heute hingegen bietet selbst Aldi Champagner, Parmaschinken und Bioprodukte an. Die typische Mittelschichtsfamilie besitzt mittlerweile zwei Autos, fährt mindestens zweimal im Jahr in den Urlaub (einer der Gründe, warum die Herbstferien von einer auf zwei Wochen verlängert wurden) und gönnt sich Kurztrips in die Metropolen – »London calling!«. Kein Wunder, dass laut einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft die Bundesbürger glauben, 25 Prozent der Bevölkerung hierzulande seien reich. Tatsächlich sind es nur 4 Prozent, die als Single monatlich über 5800 Euro, als kinderloses Ehepaar über 8700 Euro und als Familie mit zwei Kindern über 12 200 Euro netto verdienen.

Doch drückt sich in dieser falschen Einschätzung eine richtige Wahrnehmung aus: Teile der deutschen Mittelschicht führen heutzutage ein Leben, das früher Reichen vorbehalten war. Der allgemeine Lebensstandard ist gestiegen. Dadurch entsteht eine paradoxe Situation: Man kann sich Champagner leisten, aber nicht mehr die eigene Terrasse, um ihn dort zu kredenzen. Grundstücke und Immobilien sind binnen weniger Jahrzehnte weit über die Inflationsrate hinaus teurer geworden.

Daher verläuft der wirtschaftliche Riss nicht länger zwischen Arm und Reich, sondern quer durch die Mittelschicht. Hier die »Generation Erben«, die dank Hausbesitz ihre Einkünfte weitgehend für den Konsum nutzen kann, dort die Immobilienlosen, die unter steigenden Mieten ächzen und schon mit 25 wissen, dass sie niemals ein Eigenheim besitzen werden.

Von Letzteren gibt es viele. Die Eigenheimquote liegt in Deutschland bei nur 42 Prozent. Zum Vergleich: In vielen europäischen Ländern beträgt diese Quote über 60 Prozent, in Spanien, Portugal und Italien sogar über 75 Prozent. Angesichts solcher Zahlen müsste eine soziale und gerechte Politik alles daran setzen, Durchschnittsverdienern den Immobilienerwerb zu erleichtern. Genau das praktizierten die sozialdemokratisch geführten Regierungen der 70er Jahre, indem sie zahlreiche steuerliche Anreize und Förderprogramme schufen.

In der heutigen SPD-Politik hingegen spielt das Eigenheim keine Rolle mehr. Und bei der Linkspartei schon gar nicht. Lieber führt man erbitterte (und am Ende brotlose) Diskussionen um die Mietpreisbremse, anstatt deren einzige konsequente Umsetzung – den Mietpreisdeckel – gesellschaftlich und juristisch zu erstreiten. Dies scheint aber genauso in weiter Ferne wie die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, noch so eine linke Forderung aus uralter Zeit.

Betrachten wir die Lage einmal anders und eine Spur realistischer: Wäre es nicht nachhaltiger, aus abhängigen Mietern unabhängige Wohnungseigentümer zu machen? Das könnte man sogar ökologisch regeln. Das Eigenheim muss ja kein frei stehendes Einfamilienhaus in einer weiteren den Boden versiegelnden Vorortsiedlung sein. Es gibt doch schöne Hochhäuser, von denen aus hat man auch eine gute Sicht in die politische Landschaft.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Im Bundestagswahlkampf warb die Linkspartei mit Slogans wie »Ist deine Miete zu hoch, freut sich der Vermieter« und »Damit die Miete nicht das Leben auffrisst«. Das wirkt auf den ersten Blick kämpferisch, ist aber nicht sonderlich weit gedacht. Man verzichtet darauf, unerträgliche Zustände zu beenden, und begnügt sich damit, sie zu lindern – als würde man bei einer chronischen Entzündung Schmerztabletten verabreichen, statt die Ursache des Leidens zu beseitigen.

Zugleich zeigen solche Parolen, dass vielen Linken das Wesen der Mittelschicht fremd geworden ist. Wer sich zur Mittelschicht zählt, träumt nicht von stabilen Mieten, sondern davon, eine Wohnung oder ein Haus sein Eigen zu nennen. Die SPD der 60er und 70er Jahre war sich dessen bewusst. Sie kannte die Wünsche und Sehnsüchte ihrer Wähler und befriedigte sie. Der Lohn waren Wahlergebnisse von weit über 40 Prozent. Heutzutage krebst die SPD bei 16 Prozent herum, und die Linkspartei feiert sich für rund die Hälfte. Sieger sehen anders aus.

Höchste Zeit also, sich der vergessenen Mittelschicht anzunehmen! Frustrierte Mieter gibt es genug, die nur darauf warten, sich aus der Abhängigkeit von ihrem Hauswirt zu lösen. Solange der Kommunismus auf sich warten lässt und das Privateigentum nicht verschwindet, hilft nur eines: selber zum Besitzer werden.

- Anzeige -

Wir sind käuflich.

Aber nur für unsere Leser*innen. Damit nd.bleibt.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen

Werden Sie Teil unserer solidarischen Finanzierung und helfen Sie mit, unabhängigen Journalismus möglich zu machen.