Die dringliche Bitte von Schacht & Co.

Vor 75 Jahren: Die Industrielleneingabe – Beweis- und Streitwert eines Dokument

  • Kurt Pätzold
  • Lesedauer: 7 Min.

1945 wurde in den Trümmern Kölns auf dem Gelände des Bankhauses Stein in dessen papierner Hinterlassenschaft ein Schriftstück gefunden. Es besagte, dass sich eine Gruppe von nicht ganz zwei Dutzend Personen am 19. November 1932 an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg gewandt hatte, mit der Bitte, Adolf Hitler zum Reichskanzler zu ernennen.

Der hatte als Parteiführer zwei Wochen zuvor bei einer erneuten, auf eine wiederum verfassungswidrige Auflösung des Reichstages folgenden Wahl einen herben Rückschlag hinnehmen müssen. Der Nazipartei waren in kaum mehr als drei Monaten zwei Millionen Wähler davon gelaufen. Noch immer folgten ihr jedoch elf Millionen und stellten damit die bei Weitem größte Gefolgschaft einer politischen Partei. Wenn aber der Mann, der ihnen als Retter, ja Erlöser präsentiert wurde, wieder nicht zum Zuge kam und ein Trommler blieb, wie lange würden auf ihm dann noch Hoffnungen ruhen? Nicht dass die Absender des Schriftstücks Hitler erst jetzt als »brauchbaren Mann« erkannt, ihn manche nicht bereits seit Längerem als Regierungschefs favorisiert haben würden. Doch in diesem Moment entschlossen sie sich zu einem außergewöhnlichen Schritt.

Hitler den Weg nach Berlin geöffnet
Die Brisanz der Entdeckung von 1945 lag zutage. Die verheerenden Folgen der faschistischen Diktatur in Deutschland für nahezu den gesamten europäischen Kontinent und dessen Bewohner führten unabweisbar zu der Frage, wer die Menschenmassen an toten und überlebenden Opfern zu verantworten habe. Das lenkte die Gedanken auf jenen geschichtlichen Tag zurück, den 30. Januar 1933. Ohne ihn war das Geschehen der folgenden Jahre undenkbar. Mit ihm war Deutschland auf den Kriegspfad eingeschwenkt. Wer also hatte Hitler den Weg in die Berliner Wilhelmstraße geöffnet?

Hier sind die illustren Namen der Unterzeichner: Hjalmar Schacht (ehemaliger Reichsbankpräsident), Fritz Thyssen (Aufsichtsratsvorsitzender der Vereinigten Stahlwerke), Friedrich Reinhart (Direktor der Commerzbank), August Rosterg, (Generaldirektor der Wintershall AG), Kurt Freiherr von Schröder, (Privatbankier), Emil Helfferich (Aufsichtsratsvorsitzender der HAPAG). Mitgetan hatten weitere Aufsichtsratsmitglieder und Vorsitzende von Banken sowie aus den Kreisen der großen Grundeigentümer Eberhard Graf von Kalckreuth (Präsident des Reichslandbundes), Joachim von Oppen-Dannenwalde, Kurt Gustav Ernst von Rohr-Manze. Stellung und Geltung der Beteiligten hatten genügt, um unter Historikern und Publizisten einen Streit darüber entstehen zu lassen, welches tatsächliche Gewicht dem Papier zugemessen werden muss, ob es die beabsichtigte Wirkung zeitigte oder folgenlos blieb.

Schacht & Co. hatten dem Staatsoberhaupt ausdrücklich ihre Unterstützung für den gegen Geist und Wortlaut der Reichsverfassung verstoßenden Kurs versichert, vom Prinzip parlamentarisch gestützter Regierungen ab- und zur Präsidialdiktatur überzugehen. Doch könnte die Praxis des zweiten Halbjahrs 1932, einer verordneten Wahl die sofortige Reichstagsauflösung folgen zu lassen, nicht beliebig fortgesetzt werden. Auch vor offenem Verfassungsbruch wurde wegen der denkbaren Folgen abgeraten. Die Lösung bestände darin, einer von Hindenburg gestützten Regierung eine Massenbasis zu verschaffen. Dafür stünde nur Hitler mit seiner Gefolgschaft zur Verfügung, die »führend an der Regierung beteiligt« werden müsste. Beruhigend wurde dem angefügt, dass »Schwächen und Fehler«, die notgedrungen jeder Massenbewegung anhafteten, sich nicht geltend machen würden, wenn Hitler Reichskanzler wäre. Die Wirtschaft brauche Ruhe und auf diese Weise könne sie geschaffen werden.

Die Quellenkritik vieler Fachleute wurde von Anbeginn von dem Interesse mit- und missgeleitet, dieses Papier als folgenarm und die Großmächtigen als am Einzug des Führers in die Reichskanzlei unbeteiligt erscheinen zu lassen. Es wurde gefragt: Hat das Schriftstück überhaupt das Amt des Reichspräsidenten erreicht? Und wenn es dahin gelangte, war es dann vor die Augen Hindenburgs geraten? Und wenn der alte Herr es gelesen hatte oder ihm sein Inhalt von Staatssekretär Meißner vorgetragen wurde, hat es dann den mehr als zwei Monate später erfolgten Entschluss beeinflusst? Die Fragen wurde so formuliert, dass letzte Antworten sich nicht geben ließen. Hindenburg war 1934 gestorben, und er allein hätte klärend zu reden vermocht.

Andere Spezialisten der Geschichte des deutschen Imperialismus wie Joachim Petzold, Fritz Klein, Wolfgang Ruge sahen in der Initiative einen Beweis dafür, wer an der Wende von 1932/33 die »Königsmacher« waren. Dass die Eingabe in das Palais in der Wilhelmstraße gelangt war, fanden Historiker der DDR im archivierten Bestand des Amtes des Reichspräsidenten heraus. Es war nicht gut denkbar, dass eine Äußerung von diesem Doppelgewicht – der Absender wie des Inhalts – Hindenburg vorenthalten worden wäre. Jedoch und immerhin: Zunächst war das Staatsoberhaupt dem Rat nicht gefolgt, sondern hatte den Reichswehrminister Kurt von Schleicher zum Kanzler ernannt, wie vor ihm Franz von Papen ein Mann ohne Massengefolgschaft, ein Platzhalter, wie eine Analyse von Kommunisten richtig besagte.

Die Industriellen-Eingabe ist nicht das einzige Dokument, das die Verantwortung eines Teils der deutschen Wirtschaftselite für die Aufrichtung der Diktatur bezeugt, aber das wichtigste, das schwarz auf weiß eine »konzertierte« Aktion zugunsten Hitlers bezeugt. Doch ist zur Entlastung des großen Kapitals darauf verwiesen worden, dass diese Schicht doch ungleich zahlreicher gewesen wäre als die Akteure dieses politischen Vorstoßes. Zudem fehlten unter dem Papier wichtige Namen und nachweislich Angesprochene hätten sich ihm auch versagt. Der Favorit der Mehrheit wäre von Papen, einer aus ihnen sozial verwandten Kreisen gewesen, nicht dieser Hitler.

Zugunsten dieser Deutung wird auf ein anderes Dokument verwiesen. Zur gleichen Zeit hatte sich eine Großgruppe von Kapitaleignern für von Papen und die ihn stützende Deutschnationale Volkspartei eingesetzt. Ihr Aufruf »Mit Hindenburg für Volk und Reich« soll als Beweis für Antinazismus oder Antihitlertum der Mehrheit der Großbourgeosie gelten. Doch erwiesen wird mit ihm vor allem, dass diese zahlenstärkere Aktion sich ebenfalls an die Seite des verfassungbrechenden Staatsoberhauptes stellte und damit die parlamentarischen Demokratie ablehnte. So eignet sich der pseudopatriotische Appell schlecht dafür, das eine Dokument durch das andere zu entkräften. Erstens hatte von Papen schon im Hochsommer seine Bereitschaft zu erkennen gegeben, mit diesem Hitler gemeinsam zu regieren. Zweitens hat er nach dieser Verbindung geradezu gegiert und sie zuwege gebracht, wenn die Rollen auch vertauscht waren; denn nicht Hitler wurde von Papens Vizekanzler, sondern Papen der Hitlers. Und drittens lag dem Votum und der Aufhilfe für die Deutschnationalen kein prinzipelles, sondern ein taktisches Kalkül zu Grunde: Deren Minister sollten vor allem verhindern, dass die antikapitalistische Phraseologie der »Nationalsozialisten« in Regierungspolitik übersetzt würde. Dass die Minderheit der sich uneingeschränkt erklärenden Parteigänger Hitlers schließlich erfolgreich war, bezeugt – darin liegt eine Warnung aus deutscher Geschichte –, dass in Krisenzeiten Minoritäten zum Zuge kommen, wenn die Rivalen über Gegenkonzepte nicht verfügen.

Herzensrepublikaner? Aber mitnichten!
Der Machtantritt der Faschisten geht nicht allein auf das Konto der Interpellierenden um Hjalmar Schacht. Fürsprecher und Förderer Hitlers in den deutschen Oberschichten von den Wirtschaftsführern bis zu einflussreichen Militärs, von den Universitätsprofessoren bis zu den höheren Beamten waren zahlreich, doch nicht alle waren angesichts des offenen Ausgangs der Entwicklung bereit, sich unwiderruflich festzulegen. Doch belegt das Ja zu den Parteien Hitlers und Hugenbergs, deren Koalition schließlich zustande kam, dass die Kräfte, die nach der Revolution die Republik als Fluchtburg akzeptiert hatten, sie nun preisgaben, da sie ihren Zwecken nicht mehr taugte. Ein Narr, wer in dieser Oberschicht nach Herzensrepublikanern suchte.

Die dominierende Richtung der Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik hat spezielle Forschungen zur Vorgeschichte des 30. Januar 1933 eingestellt. Das Feld gilt als bestellt. Zwar ließen sich die Schacht, Papen und Schröder vor historischer Kritik nicht retten, doch sollen sie als Ausnahmen und erfolglos erscheinen. Und zu Jahresanfang, als an die Auflösung des preußischen Staates durch den Aliierten Kontrollrat vor 60 Jahren erinnert wurde, war zu lesen: Es seien »Teile des Adels« gewesen, die »auf einen aus der braunen Bewegung aufgestiegenen Diktator setzten«. Das ist für viele Großagrarier unbestritten, doch ihr wirtschaftliches Gewicht war längst relativiert und ihr politischer Einfluss konnte sich an jenem der Großbankiers und -industriellen nicht messen.

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