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Südkorea: Der Schock wirkt nach
Südkorea ist ein Jahr nach dem kurzzeitigen Notstand nur oberflächlich befriedet
Es ist ein Jahr her, dass der damalige Präsident Yoon Suk Yeol das Kriegsrecht verhängt hat, doch für viele Koreaner scheint der Ausnahmezustand längst noch nicht vorüber. Jedes Wochenende ziehen mehrere tausend meist ältere Anhänger Yoons in das Zentrum der Hauptstadt Seoul, um lautstark die Freilassung des mittlerweile verhafteten Politikers zu fordern. Dass die Zusammenkünfte wie eine skurrile Mischung aus freikirchlichem Gottesdienst und militanter Bürgerwehr wirken, ist kein Zufall: Oft sind es erzkonservative Pastoren, die die Proteste anführen. Mit »Hallelujah!«-Rufen feuern sie die Massen an – in ihrem vermeintlichen Kampf für die freiheitliche Ordnung des Landes.
Was in den Abendstunden des 3. Dezember 2024 passierte, entzweit die Koreaner weiterhin: Der 64-jährige Yoon Suk Yeol trat damals überraschend vor die Fernsehkameras, um seiner Nation den Notstand zu erklären. Die linke Opposition sei von kommunistischen Kräften aus Nordkorea und China unterwandert, sagte der Präsident mit ernster Mine. Beweise für seine kühne Behauptung legte er, der verzweifelt um sein politisches Überleben kämpfte, nicht vor. Doch wenige Minuten später ließ Yoon Armeehelikopter nachts über den Han-Fluss fliegen, die auf dem Parlamentsgebäude landeten. Panzer rollten über die Brücken an, Spezialkräfte riegelten das Gelände der Nationalversammlung ab. Doch 190 Abgeordneten gelang es, sich im Parlament zu verbarrikadieren. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion beriefen sie eine Abstimmung ein – und setzten das Kriegsrecht nach nur wenigen Stunden außer Kraft.
Bewährungsprobe für südkoreanische Demokratie
Die südkoreanische Demokratie, sie hat ihre bisher härteste Bewährungsprobe seit den ersten freien Wahlen des Landes 1987 nur haarscharf überstanden. Ein Jahr später scheint auf der Oberfläche nur mehr wenig an jenes dunkle Kapitel zu erinnern. Die politische Landschaft hat sich seither diametral gewandelt: Der Linkspopulist Lee Jae Myung, damals Oppositionsführer, wurde im Juni mit deutlicher Mehrheit ins Präsidentenamt gewählt. Der harten Nordkorea-Politik seines Vorgängers setzt er eine Charmeoffensive entgegen, auch gegenüber China versucht Lee die Wogen zu glätten. Im Inneren hat der 61-Jährige die Märkte stabilisiert, die Energiewende fokussiert und sich darüber hinaus den Zukunftstechnologien zugewandt: Sein Ziel ist es, Südkorea als führenden Player im Bereich der künstlichen Intelligenz zu etablieren.
Dass sich die südkoreanische Gesellschaft allmählich von den traumatischen Ereignissen erholt, dafür gibt es zumindest einige Anzeichen. Laut aktuellen Daten des Meinungsforschungsinstituts Gallup hat die Bevölkerung mehrheitlich wieder das Vertrauen in ihre Regierung (43 Prozent), das Militär (70 Prozent), Wahlsystem (60 Prozent) und Justizministerium (29 Prozent) zurückerlangt. Hinzu kommt, dass die Aktienmärkte nach einem katastrophalen Einbruch im Zuge der Staatskrise wieder rasant Fahrt aufgenommen haben: Der KOSPI ist im laufenden Jahr so stark gestiegen wie kein anderer der globalen Leitindizes.
Doch wirkliche Aufbruchstimmung ist in der Bevölkerung dennoch wenig zu spüren. Die Leute leiden unter rasant gestiegenen Lebensmittelpreisen, hohen Wohnkosten und einem hart umkämpften Arbeitsmarkt. Vor allem aber geht den Südkoreanern der gesellschaftliche Kitt abhanden: In einer landesweiten Umfrage, die von der konservativen Tageszeitung »Joongang Ilbo« in Auftrag gegeben worden war, gaben 77 Prozent aller Südkoreaner an, dass sich die politische Polarisierung seit vergangenem Dezember nur mehr weiter verschärft hat.
Bewegte Zeiten seit Ende der 80er Jahre
Tatsächlich ist der ostasiatische Tigerstaat seit der Demokratisierung Ende der 80er Jahre politisch nie wirklich zur Ruhe gekommen: Fast alle Präsidenten der vergangenen Jahrzehnte landeten nach ihrer Amtszeit korruptionsbedingt hinter Gittern, begingen Selbstmord oder wurden ihres Amtes enthoben.
Auch Yoon Suk Yeol wartet derzeit im Gefängnis auf sein Urteil. Ihm wird unter anderem »Aufruhr« zur Last gelegt, was laut südkoreanischem Recht theoretisch mit der Todesstrafe geahndet werden kann. Ein Vorwurf der Sonderermittler wiegt besonders schwer: Yoon soll im Oktober 2024 gezielt eine Drohne über die Grenze nach Nordkorea geschickt haben, die auch tatsächlich über der Hauptstadt Pjöngjang abstürzte. Der damalige Präsident Südkoreas soll ein perfides Kalkül verfolgt haben: Den Nuklearstaat im Norden zu einer militärischen Gegenreaktion zu provozieren, mit der Yoon dann seine Kriegsrechtspläne hätte rechtfertigen können.
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