Die schönen Fremden

  • Fritz Rudolf Fries
  • Lesedauer: ca. 10.5 Min.
Was uns Studenten der romanischen Philologie Frankreich in den fünfziger Jahren bedeutete, es kann im Nachhinein nur vermutet werden. Gewiss, es war das Land ständig neuer literarischer und philosophischer Experimente. Sahen wir im Filmkino »Capitol« Die ehrbare Dirne, einen Film nach einer Vorlage des Philosophen und Schriftstellers Jean-Paul Sartre, konnten wir, was uns da gezeigt wurde - der alltägliche Rassismus in den USA - auf die existentialistische Philosophie seines Autors zurückführen - sofern wir Einblick bekamen in seine Bücher, und Manfred Naumanns Seminar, das sich doch lieber mit Stendhal und den französischen Romantikern beschäftigte, Sartre gestreift hatte. Sartre galt als Linker, dem man nicht trauen konnte; seine Philosophie räumte dem Individuum zu viele Rechte ein: Wie einer sich in seiner Existenz aufführte, in seinem Engagement, um es in der Sprache der Zeit zu sagen, in dem Maße würde er zum Exempel werden für die Gesellschaft.
Frankreich schien auf der Landkarte zu den utopischen Ländern zu gehören, die man nur im Geiste bereist. Gab es das Land wirklich, für uns war es unerreichbar. Oder doch nicht? Eine Kommilitonin, Lis D., die zu meinem und Felis Freundeskreis gehörte - und um die Wahrheit zu sagen, war sie meine heimliche Liebe -, Lis, ein schmales eigentlich unauffälliges Mädchen von beunruhigender Sachlichkeit, arbeitete wie die meisten von uns zur Leipziger Messe als Dolmetscherin. Die französischen Vertreter in Leipzig luden sie nach Frankreich ein, und das Wunder geschah, sie durfte in den Semesterferien nach Paris und in die Provence reisen. Sie avancierte zum Wunderkind der Seminargruppe, und ich konnte mir einbilden, dass sie meine Liebe insofern erwiderte, als sie mir, während wir wie Bruder und Schwester auf dem Bett ihres Untermieterzimmers in der Leipziger Buttergasse lagen, von Frankreich erzählte. Sie holte das unerreichbare Land ins Zimmer in der Musik von Georges Brassens. Sie schenkte mir die mitgebrachten Platten, und meine Verliebtheit nährte sich von den Geschichten der unglücklich Liebenden. Durch Lis lernte ich Françoise Sagan kennen, die mit ihren ersten Romanen, diesen banalen Geschichten kleiner Mädchen an der Seite ihrer Väter und Liebhaber, zum Weltstar einer Literatur geworden war, die die großen Worte und die dramatischen Seelenlagen vermied. Sie hatte tatsächlich alle Bücher gelesen und war im tiefsten Innern triste, wie es bei Mallarmé heißt, und sie paraphrasierte auf ihre Art die Lieder von Brassens, wenn er Aragon vertont: »Il n'y'-a pas amour heureux« - glückliche Liebe, die gibt es nicht.
An Lis würde ich denken, wenn ich allein, oder in den achtziger Jahren mit Jackie, nach Paris kam. Die Stadt zeigte uns immer dasselbe Gesicht. Sie hatte nicht mit uns gerechnet, und ob wir uns ihr bekannt machten, lag an uns. Sie hatte schon so ausgesehen, dachte ich, mit ihren muschelgrauen Fassaden, ihrem rosa Himmel, dem Verkehr und der Werbung für Dubonnet, als meine Eltern auf dem Weg von Bilbao nach Leipzig hier 1942 Station gemacht hatten, und das Kind, allein abends im Hotel zurückgelassen, mit einem Schiffchen im Lavabo spielte.
Nie hat mich mein eigener Text mehr enttäuscht als bei einer Lesung 1978 in der deutschsprachigen Buchhandlung Calligrammes. Ich las aus dem Roman »Das Luftschiff«, in der verzweifelten Hoffnung, meine Sätze, die zu Hause so zuverlässig schienen, könnten hier die Ohren der Emigranten von gestern und der französischen Germanisten von heute erreichen. Nach der Lesung fragte mich die betagte Madame Flinker, Witwe des Begründers von Calligramme und Mutter der so französischen und aufgeschlossenen Buchhändlerin Annette Antignac, ob ich denn nun die Absicht habe, in Paris zu bleiben? Mit anderen Worten, der DDR den Rücken zu kehren?
Hatte sie nichts von meinem Text verstanden oder hatte sie, ganz im Gegenteil, gemeint, bei so einem Text müsse der Autor die Konsequenzen ziehen und der Freiheit seiner Worte die Freiheit seiner Existenz folgen lassen.
Madame Flinker bestand nicht auf ihrer Frage. Sie fuhr uns nach dem obligatorischen Abendbrot zu Ehren des Autors ins Hotel, mit steifem Bein auf dem Gaspedal, indes sie in reinstem Berlinerisch auf die lahmarschigen Franzosen schimpfte, die ihr mit ihren Karossen im Weg waren, und auch die fuhren ja weiß Gott wie der Teufel.
Jahre später in derselben Buchhandlung der gemeinsame Auftritt mit Stephan Hermlin. Wir sind mit einem halben Dutzend Kollegen nach Paris gekommen, um hier und in der Provinz ein Programm zu absolvieren, das vom französischen Kulturministerium eingerichtet, LES BELLES ETRANGERES heißt - Die schönen Fremden. Gemeint sind die bestaunenswerten Ausländer, jene Exoten die man auf Märkten und Plätzen zur Schau stellte, um in der Verfremdung das Eigene zu erleben. Wir sind die anderen Deutschen, die weniger auf die Macht der Westmark als auf die Kraft der Worte setzen. Und manchmal sind es Worte, die noch keinen Inhalt haben. Die Sympathien für diese Leute aus der DDR sind groß. Ein jeder von uns ist mit mindestens einem Buch in französischer Übersetzung vertreten. Unsere Übersetzer umgeben uns wie Krankenschwestern, weiß man, was diese irre Pariser Luft Menschen wie Hermann Kant oder Helga Königsdorf antun kann? Um Hermlin braucht sich keiner zu sorgen, er ist ein Pariser avant la lettre, und das heißt, wie er mir gesteht, er verabscheut die Pariser wie die Pariser sich selbst oder ihren Nächsten, oder, wie ich für mich hinzusetze, wie Céline, der vermutlich in einem den Armenärzten reservierten Himmel sitzt, wo es etwas schäbiger zugeht als in der Hölle der Kollaborateure. Hermlin hat seine Erfahrungen als Emigrant gemacht und den Chauvinismus und den Antisemitismus der Grande Nation am eigenen Leibe kennen gelernt.
Nichts davon lässt der Dichter an diesem Nachmittag in der Buchhandlung verlauten. Er liest deutsch aus »Abendlicht«, seiner poetischen Autobiographie. (Nach dem Ende der DDR und der Aktion macht platt die Literatur der DDR, wird ihm dieses Buch ob seiner Mischung von Dichtung und Wahrheit von einigen Kritikern um die Ohren gehauen werden.) Ein junger Mann fragt nach: Es sei doch wohl ein sehr ernstes, fast trauriges Buch? Hermlin, wie ich ihn selten erlebt habe, bricht in ein Lachen aus. Im Gegenteil! Es sei ein sehr komisches Buch, sehr zum Lachen, und er schaut mich an und ruft mich zum Kronzeugen seiner Behauptung auf. Gemeinsam verwirren wir den jungen Mann vollends, der sich sein Bild von der moralgeschwängerten deutschen Literatur im Osten gemacht hat. Ein komisches Buch? In meiner Verehrung für Hermlin bin ich gern bereit, aus schwarz weiß zu machen. Aber doch, er hat Recht. Wie sollte man nicht sein Leben, hat man es so ziemlich abgeschlossen, als komisch empfinden, man ist ja entkommen, kann zurückblicken, und das deutsche Sprichwort, so banal es klingt, auf sich anwenden: Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Das Leben als Comédie Humaine, für die auf der Bühne ist es komisch, für die im Parkett ist es tragisch.
Quand même, in den letzten Lebensjahren schien ein leiser beinahe unbemerkter Tod Hermlins Ausweg zu sein, wollte er seinen Fallenstellern entkommen. Das allzu freie Fantasieren in »Abendlicht«, so Kamnitzers Resümee nach dem Tod Hermlins, habe Werk und Autor beschädigt. Eine Ansicht, die ich nicht teilen kann. (...)
Kant und ich sagten zu, in Begleitung eines DDR-Mitarbeiters der UNESCO einige ausländische Kollegen und Mitarbeiter dieses kulturellen Anhängsels der Vereinten Nationen zu besuchen. Ich wußte, daß Cortázar hier gearbeitet hatte. Die langen Gänge des Gebäudes, die bürokratische Maschinerie regten ihn an, und wenn ihn die Arbeit langweilte, bat er die Gespenster seiner Fantasie, ihm eine Geschichte zu erzählen. Das flaggengeschmückte Gebäude hatte in seiner Geschäftigkeit etwas von einem Ameisenhügel, aber es waren Ameisen, die sich in Zeitlupe durch die Gänge bewegten und von keinem schrillen Telefon vom Weg abzubringen waren. Unser Mann aus der DDR dirigierte uns hin und her; ich vermisste ein Fähnchen mit den Farben der DDR in seiner Hand, und wollte Gott, dass wir nicht seinem westdeutschen Kollegen begegneten.
Lag es am Alter der hier Tätigen oder an ihrer der Kontemplation ergebenen Lebensweise, dass alles langsam und gemächlich ablief? Man wies uns einen Raum an, im Halbdunkel ein Tisch und unbequeme Stühle. Kant schien ebenso wenig wie ich zu wissen, wozu wir hier gebeten waren. Nun, die anderen Herren, die eintrafen, waren alle von der schreibenden Zunft und hochbetagte Repräsentanten ihrer Länder. Der Franzose ein Lyriker von Weltrang, der Portugiese ein Romancier am Ende seines Lebenswegs ... Wer noch? Weder kann ich mich heute an Namen noch an Gesichter erinnern. Kant und ich kamen uns vor wie die Söhne dieser Herren, missratene Söhne, dem Alter nach Grünschnäbel, die sich erdreisteten, das Wort an sie zu richten. Unser Mann aus Berlin hätte gern ein wenig mit uns geprahlt, mit Kant wohl mehr als mit mir, mit den hohen Auflagen der Bücher in der DDR, die für wenig Geld zu haben waren; mit der Kulturpolitik überhaupt, deren Produkte Kant und ich waren. Kant war diplomatisch genug, es nicht zu einer derartigen Häufung von Statistik kommen zu lassen. Aber hier, eleganter Plauderer der er doch sein konnte, versagte ihm ein wenig die Stimme. Wovon handelten unsere Bücher, wollten die Herren wissen. Wir versuchten, Kant und ich, jeder die Werke des anderen zu beschreiben. Dabei stellte es sich heraus (allerdings wohl nur für uns), dass keiner die Bücher des anderen gelesen hatte, so dass sehr originelle Inhaltsangaben entstanden. Die Herren nickten, es interessierte sie einen feuchten Kehricht, was in unseren Büchern stand. Der französische Lyriker, der lang und hager war, debattierte mit dem rundlichen Romancier aus Portugal über das Primat von Lyrik oder Roman. Es war klar, wie er die Sache entschied, was den Portugiesen aufbrachte. In mir fand der Portugiese einen glühenden Parteigänger, der leichtsinnig die kulturellen Beihilfen seines Staates in Form hoher Auflagen, subventionierter Preise, Arbeitsbeihilfen etc. in den Wind schlug. Der Portugiese, der einen mehrsilbigen, aus vielen Teilen bestehenden aristokratischen Namen hatte, gefiel mir immer besser. Er würde aus verarmtem Adel stammen, sich in Paris durch ein Studium gehungert haben, um dann in den diplomatischen Dienst zu gehen. So vergingen ihm die Jahre im Leerlauf des Gleichen, indes das Herz ganz andere Geschichten erfuhr, aus Sehnsucht und Verlangen, aus Spiegelbildern und in alten Büchern gelesenen Abenteuern. Da begann er zu schreiben, und es wurde eine Geschichte über die Suche nach der verlorenen Zeit. Wie, das gab es schon? Doch nicht seine Geschichte. In hundert Jahren würde sie einen anderen Lebensmüden ermuntern, in der Literatur eine Möglichkeit des Überlebens zu suchen und zu finden. Später würde uns Hermlin fragen, wie es uns ergangen sei. Wir nannten die Namen derer, die man uns vorgestellt hatte. Der? Sagte Hermlin und meinte den Lyriker. Ein stockreaktionärer Mann. Den Namen des Portugiesen gab ich nicht preis. Seine Bücher habe ich noch immer nicht gelesen.
Die Erinnerung an Paris erzeugt einen Rausch, der jede Balance unmöglich macht. An eine Abreise will ich mich erinnern. Es ist der Vorabend des 1. Mai, und es ist ein besonderer Tag. Der Krieg in Vietnam ist beendet. Wir sitzen chez Uncle Duc, in einer der vielen, an diesem Abend überfüllten vietnamesischen Restaurants. Alain Lance hat uns mitgenommen, und Onkel Duc ist seit Jahren ein Freund seiner Gäste. Die Nacht wird lang, der Fall von Saigon muss gefeiert werden mit viel Reisschnaps in Gläsern, die so geformt sind, dass ein Vogelgezwitscher den Trinker erheitert, wenn er das Glas kippt. Von Tisch zu Tisch ein Konzert, das sich zu einer Komposition wie von Messiaen zusammenfügt. Als ich meine Straße des Kardinals Lemoine erreiche, sind die Blumenhändler dabei, ihre Stände aufzubauen. Jedes Jahr am 1. Mai darf jeder in Paris, auch wenn er keinen Gewerbeschein besitzt, Blumen verkaufen. Die Blumen des Tages sind Maiglöckchen. Mein Strauß, den ich durch Paß- und Zollkontrolle trage, in Paris und in Berlin, verliert seinen Duft nicht, als ich ihn zu Hause überreiche und die beschenkte Dame die Blume...

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