Kein Weihnachts-Märchen

Lothar Kutz

  • Lesedauer: 9 Min.
»Ausgelöst durch Krankheit und Erinnerung an meine Kindheit, eine schwere Zeit, die mir unvergesslich in Erinnerung blieb und bleiben wird, begann ich meine Weihnachtsgeschichte aufzuschreiben. Ich glaube, dass viele Menschen meiner Generation gleiches oder ähnliches erlebt haben.« Lothar Kutz (MR Dr. med.), geboren am 28.12.1936 in Schwessin, Kreis Köslin/Pommern, machte sein Abitur an der ABF in Jena und Potsdam, studierte danach Medizin in Berlin und Erfurt. Klinische Ausbildung an der Medizinischen Akademie Erfurt. 43-jährige Tätigkeit als Facharzt für Allgemeinmedizin, ab 28.12.1989 in eigener Praxis und ab 1992 in einer Gemeinschaftspraxis mit seinem Sohn Dr. med. Christoph Kutz.

Den ganzen Tag über hatte es geschneit und es war bitter kalt geworden. Eine schmutzig weiße Decke von ehemals weißem Schnee bedeckte die Straßen und Plätze, die wir von unserem Zimmer aus sehen konnten. Es war jedoch nicht ein Tag wie jeder andere Wintertag, sondern der Heilige Abend im Jahr 1947.

Im späten September jenes Jahres waren meine Eltern, meine zwei Jahre ältere Schwester und ich aus der Heimat in Pommern vertrieben worden. Umsiedeln nannte man das. Von all unserem Hab und Gut durften wir nur das behalten, was wir gerade noch tragen konnten, aber auch das Wenige versuchten Polen uns noch abzunehmen auf dem langen Weg zum Bahnhof. Ich hatte die Aufgabe bekommen, mich um unsere zusammengeschnürten Betten zu kümmern, die ich auf einem selbstgebastelten Gestell mit zwei kleinen Rädern hinter mir herzog. Immerhin war ich schon zehn Jahre alt mit etwas verträumt blickenden großen Augen im schmalen Gesicht und großen abstehenden Ohren.

Viele Beleidigungen und Erniedrigungen hatten wir in den letzten drei Jahren über uns ergehen lassen müssen, bis wir in einen Güterwagen zusammengepfercht über die Oder fuhren. Das Schrecklichste waren die Entlausungen. Wir warteten lange vor schmutzigen Baracken in einer langen Menschenreihe, mussten alle unsere Anziehsachen auf einen Tisch legen und gingen dann völlig nackt, die Frauen und Mädchen links, die Männer und Jungen rechts, mehr geschoben als freiwillig in einen nur spärlich beleuchteten Raum. Der Geruch nach Desinfektionsmittel empfing uns. Aus an der Decke hängenden Düsen sprühte eine nebelartige Flüssigkeit auf uns herab. Wir Kinder weinten und zitterten vor Angst. Ich hatte alle Mühe, wenigstens meinen Vater vor mir nicht aus den Augen zu verlieren. Ein Mann hinter mir erklärte gerade seinem Sohn mit leiser Stimme, dass viele aus diesen Räumen nicht wieder herausgelassen würden.

Das vergrößerte noch meine Furcht. In dem feuchtkalten Dunst und in dem herrschenden Gedränge sah ich meinen Vater zum ersten Mal in meinem Leben völlig entblößt und schämte mich entsetzlich für ihn. Endlich trafen wir wieder vor dem Tor ein, frisch eingekleidet in unsere noch etwas feucht muffigen Kleider und es ging mit den Güterwagen noch vier Wochen weiter in Richtung Westen, unterbrochen von öfterem Anhalten und oft tagelangem Warten auf die Weiterfahrt.

Bei der Abfahrt in Köslin hatte noch jemand das Lied »Nun ade mein lieb Heimatland« angestimmt. Von Waggon zu Waggon breitete sich der Gesang aus, erschien uns wie ein Choral. Viele winkten aus den schmalen Fenstern heraus, wohl ahnend, dass wir unsere Heimat nie wiedersehen sollten. Nur die ganz Alten wollten es nicht wahrhaben und glaubten immer noch an eine Rückkehr.

Mittlerweile war die Stimmung allgemeiner Resignation gewichen. Auch sahen wir, dass mehrmals offensichtlich Tote aus den Güterwagen abgeholt wurden. In mir war große Traurigkeit und unterschwellige Empörung, soweit ich überhaupt noch etwas fühlen konnte. Völlig hilflos empfand ich mich einer Macht ausgeliefert, der ich nicht entfliehen konnte. Endlich hieß es, als der Zug erneut hielt: »Alle aussteigen.«

Der Ort hieß Suhl/Heinrichs. Etwa 200 bis 300 Flüchtlinge wurden hier in einer ehemaligen Fabrikhalle des Simsonwerks untergebracht. Dicht an dicht standen Doppelstockbetten, und auch wir erhielten zwei Strohsäcke zugewiesen, auf denen wir zu viert eine so genannte Quarantänezeit von vier Wochen verbringen sollten.

»Fahrt doch am besten dorthin, wo ihr hergekommen seid«

Einzelne Familien verließen von Zeit zu Zeit den Saal; wir Kinder schauten ihnen sehnsüchtig nach. Von der Außenwelt waren wir durch einen hohen Drahtzaun getrennt. Endlich wurde auch unsere Familie aufgerufen, und wir konnten mit unseren Habseligkeiten, es war gewiss nicht viel, den Saal verlassen. Diesmal fuhren wir mit einem richtigen Personenzug Richtung Schleusingen einer neuen Heimat entgegen.

Der kleine Ort in Thüringen, in den wir eine Zuweisung bekommen hatten, hieß Hinternah. Aber bereits am nächsten Tag waren wir wieder in Suhl/Heinrichs. Unfreundlich und misstrauisch hatte man uns bereits auf der Straße betrachtet. Ein Älterer hatte sogar laut gesagt, »was wollen die hier, macht dass ihr wieder weiterkommt«. Eine lange Nacht hindurch hatten wir auf den harten Stühlen in einer Gaststätte zugebracht, bis eine Frau kam und uns sagte, hier sei kein Platz für uns: »Fahrt dorthin, wo ihr hergekommen seid.«

Nach weiteren zwei Wochen ungeduldigen Wartens im Quarantänelager wurde uns in Suhl eine Bleibe in einer geschlossenen Gaststätte zugewiesen, Poststraße Nr. 6. Über acht Wochen schliefen wir auf der Erde im »Gasthaus zum Anker«, bis zwei kleine Zimmer im ersten Stock frei wurden, sogar mit einer kleinen Küche. Die Toilette mussten wir mit zwei weiteren Familien im Haus teilen. Nachbarn hatten uns zwei alte Matratzen geschenkt. Ein paar alte Gardinen an den Fenstern verbreiteten wieder einen Hauch von Wohnlichkeit und beinahe schon Geborgenheit und Wohlstand.

Auf den Feldern klaubten wir die restlichen Ähren auf

Auch etwas zu essen bekamen wir geschenkt. Es gab Pellkartoffeln und dazu eine Scheibe Brot. Das Brot hatten wir in der Nähe von Suhl erbettelt. Meine Mutter oder eine Frau aus der Nachbarschaft nahmen mich immer auf ihre Hamstertouren mit. Ich sah so abgemagert und hilfebedürftig aus, dass es dem hartherzigsten Bauern, besonders den dicken Bauersfrauen irgendwie Leid tat und wir dadurch hier ein paar Kartoffeln oder dort etwas Mehl, manchmal wenn wir besonders viel Glück hatten, auch eine Scheibe Brot zugesteckt bekamen. Meist erhielten wir aber nur die Erlaubnis, auf den abgeernteten Feldern nach liegen gebliebenen Ähren zu suchen. Hatten wir manchmal gar nichts bekommen können, wusste unsere Mutter sich so zu helfen, dass sie aus Resten und Kartoffelschalen wenigstens für uns Kinder etwas Essbares zusammenbraute.

Sehnsüchtig erwarteten wir Kinder das Weihnachtsfest. Endlich war es so weit. Den ganzen Tag über herrschte eine erwartungsvolle Stille. Der Heilige Abend war herangekommen.

Diesmal freute ich mich besonders auf die Bescherung unterm Weihnachtsbaum, denn es war mir nicht erinnerlich, einmal böse oder unartig gewesen zu sein. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, keine Geschenke vom Weihnachtsmann zu erhalten. Zu Hause hatte Vater immer den Baum geschmückt, und wir Kinder durften dabei zuschauen. Besonders bemerkenswert fanden wir es, wie der Vater die schönsten gelben und rotbäckigen Äpfel auf einen Kupferdraht spießte und um den Stamm des Weihnachtsbaumes wickelte, ganz unten die großen und weiter oben die kleineren. Dann waren da die vielen Lichter und bunten Christbaumkugeln, die silbrigen Vögel, das glitzernde Lametta und die vielen Naschereien, vergoldete Nüsse und das zarte Engelshaar auf den Zweigen.

Immer diese Frage: Warum nur hatte man uns aus der Heimat vertrieben?

Nachdem ich lesen gelernt hatte, interessierten mich besonders Weihnachtsgeschichten. Meist handelten diese jedoch von reichen Leuten. Immer herrschte eine feierliche Simmung. Die Glocken klangen, es wurde gesungen. Der Vater schlug die große Familienbibel auf, die er schon vom Großvater geerbt hatte, und las aus dem Lukas-Evangelium die Geschichte von der Geburt Jesu vor. Nach dem letzten Vers: »Und die Hirten kehrten zurück, Gott den Herrn lobend und preisend für alles, dass sie gehört und geschaut hatten, wie ihnen geheißen worden« ... wurde das Licht gelöscht, alle blieben noch etwas andächtig sitzen. Der Vater ging nach nebenan und zündete die Lichter am Christbaum an. Ein Glöckchen ertönte, die Tür wurde geöffnet, jetzt durfte die Mutter mit den Kindern eintreten. Stumm und bewundernd standen sie vor dem Christbaum, während aus der Küche verlockende Düfte von herrlichem Gebäck und Kuchen sowie von knusprigem Gänsebraten herüberwehten.

Solche Vorstellungen ließen meine Erregung immer größer werden. Natürlich war mir klar, in welcher Lage ich mich befand. Doch auch für mich und für meine Schwester, für Vater und Mutter war es Weihnachten geworden. Warum nur hatte man uns aus unserer Heimat vertrieben?

Vater war schon am frühen Nachmittag in die nahegelegene Gaststätte »Zum Bären« gegangen. Dort saß er hilflos lächelnd in einer Ecke, abseits von den Einheimischen, aber wenigstens geduldet. An den Gesprächen der anderen beteiligte er sich nicht, aber er suchte die menschliche Nähe, wenn er einen Schnaps spendiert bekam und diesen wortlos hinterkippte. Zu Hause erwartete ihn eine triste Umgebung voller Armut, zwei dauernd hungrige Kinder und eine missmutige abgearbeitete Frau, immer müde und abweisend, voller Sorge und Angst um die ungewisse Zukunft. »Was nur soll mal aus den Kindern werden.«

Ich war überzeugt, etwas geschenkt zu bekommen – eine kleine Tafel Schokolade oder ein paar Plätzchen. An größere Dinge wagte ich gar nicht zu denken. Einen kleinen Weihnachtsbaum hatte ich uns aus dem Wald geholt, ohne vom Förster erwischt zu werden, und den Baum mit ein paar Wachskerzen und Wattebällchen geschmückt. Draußen hatte es zu schneien aufgehört. Es wurde dunkler im Zimmer. Mutter arbeitete in der Küche an einer alten Jacke, während meine Schwester und ich im Zimmer saßen und warteten. Angestrengt horchten wir nach draußen, aber es passierte nichts. Kein Klopfen an der Tür und kein Geräusch auf der menschenleeren Straße.

Eine tief aus dem Herzen kommende Verzweiflung ergriff von mir Besitz.

Da kam mir ein rettender Gedanke, eine Idee wie eine plötzliche Eingebung. Ich zündete für mich und meine Schwester erst eine Haushaltskerze an und dann die anderen am Baum. Wir stiegen aufs Kopfende des Bettes und begannen, verhalten zuerst, dann aus voller Kehle »O Du fröhliche, O Du selige gnadenbringende Weihnachtszeit« zu singen, während die Kerzen ihre flackernden Schatten an die Zimmerdecke warfen. Bis heute erinnere ich mich, was für ein Gefühl der Geborgenheit mich in diesem Moment umfing. Es war das, wonach wir uns so gesehnt hatten. Weihnachten war auch für uns gekommen. Eine neue Hoffnung hatte sich in uns gesenkt, die wir schon längst verloren geglaubt hatten.

Aber die Kerzen am Baum begannen stärker zu flackern, zur Seite hin, abgelenkt von unserem Atem. Und plötzlich zischte an einer der darüber hängenden Gardinen Feuer empor. Ein helles Lodern – wir standen starr. Da war aber schon die Mutter mit einem nassen Wischtuch herbeigeeilt, schlug wütend und verzweifelt weinend auf die Flammen ein, bis nur noch die Dunkelheit da war und wir bestürzt vom Bettrand herabstiegen.

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