Geboren im rumänischen Dezember 1989

Als die »Kinder der Revolution« zur Welt kamen, waren ihre Eltern voller Hoffnungen. »Und was ist daraus geworden?«, fragen die 18-Jährigen heute. Mancher hat sich seine Wünsche erfüllen können, vielen geht es nicht besser als zuvor.

  • Matthias Wetzel, Timisoara
  • Lesedauer: 7 Min.

Razvan hat sich schick gemacht. Er trägt seine neuen Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift CIA. Sonst trage er eigentlich Gummistiefel und Wattejacke. Das sei hier auf dem Lande das praktischste. Der 18-Jährige lebt mit seinem Großvater in einer Hütte ohne Strom- und Gasanschluss. Wasser kommt vom Brunnen im Hof. Die Großmutter ist vor Jahren gestorben. Nur ihre Kristallvasen und Karaffen von der Arbeit in der Glasfabrik sind geblieben. Razvans Opa ist krank und seit Jahren arbeitslos. Der Endfünfziger sitzt in Strümpfen auf seinem Bett und starrt auf den Lehmboden der kleinen Küche. »Opa hat heute wieder Magenschmerzen«, sagt Razvan. Deswegen habe er ihm einen Kräutertee gekocht. Razvan hat kein leichtes Leben, dennoch ist er zufrieden. »Mir geht es gut. Ich lebe gern hier in unserem Dorf«, sagt er.

Der Junge wurde in eine stürmische Zeit hineingeboren. Er kam am 25. Dezember 1989 in Medias, einer siebenbürgischen Kleinstadt, zur Welt. Ganz Rumänien war in jenen Weihnachtstagen in Aufruhr. Wenige Stunden zuvor hatte ein Schnellgericht Nicolae Ceausescu und dessen Frau Elena zum Tode verurteilt und standrechtlich erschossen. Niemand wusste, wie es weitergehen sollte, aber eine seltsame Euphorie hatte die Bewohner des Landes erfasst: Ceausescu und sein bizarres Regime waren Vergangenheit. Die Hoffnungen waren riesig, nichts weniger als Freiheit und ein menschenwürdiges Leben versprach man sich.

Achtzehn Jahre später. Rumänien ist EU-Mitglied. Was Ceausescu Kommunismus nannte, wurde durch ein marktliberales System abgelöst, das einigen zu großem Reichtum verholfen hat. Dem Großteil der Bevölkerung aber geht es wirtschaftlich kaum besser als vor der Revolution. Trotz guter Konjunkturdaten ist die Arbeitslosigkeit hoch, besonders unter Jugendlichen.

Razvan bemüht sich seit Langem um eine Lehrstelle. »Am liebsten würde ich Klempner werden. Aber bis jetzt habe ich keinen Betrieb gefunden, der mich ausbildet. Vielleicht klappt es ja nächstes Jahr.« So sitzt er nun seit Abschluss der achten Klasse zu Hause und führt den Männerhaushalt. »Ich bestelle den Garten, füttere das Schwein, koche jeden Tag das Mittagessen für mich und Opa und wasche die Wäsche.«

Abends gehen die beiden manchmal zu den Nachbarn und schauen ein wenig fern. Oder er lese. »Das ist mein Lieblingsbuch«, sagt Razvan und zeigt auf eine Kinderbibel. »Die hat mir mal ein Freund geschenkt.« Einmal im Monat besucht er seine Mutter in der Kreisstadt. Eigentlich kenne er sie kaum, denn kurz nach seiner Geburt habe sie ihn bei ihren Eltern abgegeben. Jetzt lebe sie mit einem anderen Mann zusammen und habe eine neue Familie. Seinen leiblichen Vater hat der Junge nie kennengelernt.

Wenn er drei Wünsche frei hätte, welche wären das? Razvan überlegt lange. Als erstes der Ausbildungsplatz. Dann würde er das Haus renovieren und vielleicht sogar neue Kunststofffenster einbauen. Lächelnd fügt er hinzu: »Und später natürlich eine hübsche Frau und Kinder.«

»Was heißt hier Verräter!«
Ceausescu und die »Revolution« interessieren Paula Cretu nicht. In der Schule wurde das Thema kaum behandelt, ganze sieben Zeilen im Geschichtslehrbuch. Aber Paula will sowieso weg. Weg aus diesem Dorf, weg aus Rumänien. Die 17-Jährige hat schon konkrete Pläne. Im nächsten Jahr wird sie ein Chemiestudium beginnen. Nach dem Abschluss will sie nach Kanada auswandern. Paula gibt sich nicht mehr mit der Ansichtskarte in der Küche ihres Elternhauses zufrieden. »Den Toronto-Tower auf der Postkarte werde ich als erstes erklimmen«, lacht sie.

Paulas Vater lächelt süßsauer. Dorfpfarrer Cretu liebt seine Tochter. Umso zorniger reagiert er auf deren Zukunftspläne. »Unser Land braucht keine Verräter wie dich! Dafür haben wir die Revolution nicht gemacht, dass die jungen Leute jetzt alle abhauen«, bricht es aus ihm heraus.

»Was heißt hier Verräter. Das Land kümmert sich doch auch nicht um seine Menschen. Ich kenne Leute, die haben ein Diplom in der Tasche und verkaufen Kaugummis. Die Löhne hier sind einfach lachhaft. Mutter würde genau so handeln wie ich.« Paulas Mutter, Lehrerin, ist das ganze Gegenteil von ihrem energischen Ehemann. Ihre Augen verraten, dass sie ihre Tochter versteht. Der Vater dagegen schüttelt den Kopf. Er kann sich noch gut an die Revolutionstage erinnern.

Als die Unruhen von Timisoara aus das Land erfassten, lag seine Frau hochschwanger im Krankenhaus der Kreisstadt. Meldungen von Schießereien und Verhaftungen machten die Runde. Cretu war der Einzige im Dorf, der einen Fernseher besaß, und so war fast die gesamte Gemeinde tagaus tagein bei ihm zu Hause, um die letzten Neuigkeiten zu erfahren. Als die Nachrichten immer bedrohlicher wurden, schwang sich der Pfarrer auf einen Pferdewagen und machte sich ins 40 Kilometer entfernte Medias auf, um seine Frau samt Baby nach Hause zu holen. »Alles war in Aufruhr. Militär war auf den Straßen, in den Städten gab es Demonstrationen und Straßenkämpfe. Da konnte ich meine Frau doch nicht allein im Krankenhaus lassen. Viele haben ihr Leben riskiert, damit die Jungen es einmal besser haben, und meine Tochter will weg.«

Dabei liegt die 18-Jährige ganz im Trend. Viele aus Paulas Generation sehen ihre Zukunft nicht in Rumänien. In den letzten Jahren verließen Hunderttausende ihre Heimat, um in der Fremde ihr Glück zu machen. Die meisten zog es nach Italien, Spanien und Frankreich. Dass auch Paula weg will, hat Mutter Tatjana akzeptiert. Aber warum ausgerechnet nach Kanada? Wer weiß, wie oft die Tochter dann nach Hause kommt. Noch einmal schweifen ihre Gedanken in den Dezember 89. »Ich lag im Krankenhaus. Überall schwirrten Meldungen durch die Luft von Schießereien und Toten. Und ich hatte ein kleines Baby neben mir liegen. Wir hatten damals so große Hoffnungen«, sagt sie. »Und was ist daraus geworden?«, fragt Paula. »Wir hoffen immer noch«, lächelt ihre Mutter.

Zum Geburtstag nach Paris
Victoria sieht ihre Zukunft in Rumänien. Natürlich will auch sie mal ins Ausland, vielleicht sogar zum Studium. Aber sie liebt ihr Land und ihre Heimatstadt. Timisoara, zu deutsch Temeschwar, ist die »Hauptstadt der rumänischen Revolution«. Dort begannen im Dezember 89 die Unruhen, die wenige Tage später das ganze Land erfassten. Das meiste, was Victoria über jene Zeit weiß, hat sie von ihren Eltern erfahren. Die waren damals Arbeiter im Kombinat Elba und erlebten die Ereignisse hautnah mit. »Wir sind natürlich auch zu den Demonstrationen gegangen, die am 17. Dezember losgingen. Weniger aus Heldenmut als aus Neugier«, sagt Victorias Vater Ioan. Auch am 20. Dezember war das junge Ehepaar Citicariu bei der Demonstration auf dem Opernplatz. Plötzlich setzten bei Ana die Wehen ein. Durch die dichte Menschenmenge bahnte Ioan seiner Frau den Weg. Immer wieder mussten sie halten, weil Ana nicht mehr laufen konnte. Fieberhaft überlegte Ioan, wie er einen Krankenwagen organisieren könnte. Die nächste Möglichkeit war die Pforte ihres Betriebes. Dort gab es ein Telefon. Wenig später war es geschafft. Der Krankenwagenfahrer schickte Ioan weg: »Geh heim! Wir kümmern uns um deine Frau. Wie willst du denn lebend vom Krankenhaus nach Hause kommen, überall wird geschossen.«

Die Zustände im Krankenhaus waren erschütternd. Die Betten standen in den Fluren, wo sie vor Geschossen und Splittern geschützt waren. Nur die an Apparate angeschlossenen Patienten lagen in den Krankenzimmern. »Sie haben Tag und Nacht gebetet oder geschrien. Es war schrecklich«, erinnert sich Ana. Als sie am 21. Dezember eine Tochter zur Welt brachte, nannten die Citicarius sie Victoria, die Siegerin.

Achtzehn Jahre später ist Victoria ist eine junge Frau und die Ereignisse von 89 spielen nur noch selten eine Rolle. Manchmal holt Ana die Fotos aus jenen Tagen aus einer Pappschachtel. Zum Beispiel die Aufnahme, auf der sie mit Victoria und Soldaten vor einem Jeep steht. Das Bild war auf dem Heimweg von der Klinik entstanden. Die MPis sind größer als das Baby und die Soldaten machen das Siegeszeichen.

Inzwischen wohnen die Citicarius nicht mehr im kleinen Zimmer einer Arbeiterwohngemeinschaft. Heute lebt die Familie in einem Einfamilienhaus in vornehmer Wohngegend. Das Haus ist mit allem Komfort ausgestattet: Flachbildfernseher, Einbauküche, Kamin. Den Citicarius geht es gut. Victorias Vater hat sich schnell auf die Marktwirtschaft eingestellt und verdient in der Immobilienbranche sehr gut. Mutter Ana ist seitdem Hausfrau. »Seit der Wende sind wir siebzehn Mal umgezogen«, verdreht sie die Augen. Victoria wird im nächsten Jahr ihr Abitur machen. In ihrer Freizeit sitzt sie am liebsten am Computer, surft, chattet oder lädt sich Musik und Spiele aus dem Netz. Nach dem Abi will sie Informatik studieren. Aber das hat noch Zeit. Dieser Tage feierte sie ihren 18. Geburtstag – ordentlich, nicht zu Hause, sondern in Paris.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal