Narihiko Itos Wegweiser
Wie Rosa Luxemburg nach Japan kam
1950 wurde ein junger japanischer Student durch die Lektüre einer Schrift von Georg Lukacz auf Rosa Luxemburg aufmerksam. In der Bibliothek der Tokioter Universität fand der Chefredakteur der Uni-Zeitung das von Paul Levi 1921 herausgegebene unvollendete Manuskript Rosa Luxemburgs zur russischen Revolution. Diese Entzauberung der idealisierten bolschewistischen Oktoberrevolution als Modellfall der sozialen Revolution, später die Abrechnung mit Stalin auf dem XX. KPdSU-Parteitag und der Ungarn-Aufstand 1956 hatten nachhaltige Wirkung auf sein weiteres Leben. Er studierte weitere Werke Rosa Luxemburgs und übersetzte in den 1960er Jahren einige ins Japanische. 1971 begab er sich auf Weltreise, erschloss sich wichtige Quellen in amerikanischen Archiven und knüpfte erste persönliche Kontakte mit anderen Kennern Rosa Luxemburgs. 1973 nahm er in Reggio Emilia an der von Senator Lelio Basso (Italien) organisierten ersten Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz teil. Sein Name: Narihiko Ito.
Er war es, der nach dem frühen Tod von Lelio Basso dessen Idee fortsetzte und 1979 gemeinsam mit ihm freundschaftlich verbundenen Kollegen aus aller Welt die Gründung der 1980 erstmals in Zürich tagenden »Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft« initiierte. Und er wurde deren Vorsitzender. Ihm und der Unterstützung namhafter Experten aus aller Welt ist es zu verdanken, dass sich ein globales Netzwerk von Geisteswissenschaftlern und Interessenten entwickelt hat, die sich reegelmäßig zu Konferenzen treffen, sei es Paris, Beijing, Warschau, Chicago, Tampere, Berlin, Pretoria, Moskau, Guangzhou und Wuhan oder Tokio.
Ito arbeitet derzeit an einer japanischen Rosa-Luxemburg-Gesamtausgabe, die über die von Günter Radczun und Annelies Laschitza edierte erste große wissenschaftliche Werk- und Briefausgabe hinaus auch bisher noch nicht Rosa Luxemburg zuzuordnende und neu entdeckte Texte enthalten soll. Der Nestor der asiatischen Rosa-Luxemburg-Forschung ist kein Jünger, der eine Lehre verbreiten will. Er sieht seine Aufgabe darin, den theoretisch-methodischen Gehalt der Botschaft der großen deutschen Sozialistin Rosa Luxemburg den Nachgeborenen im 21. Jahrhundert zu erschließen.
Anlässlich der Tokioter Luxemburg-Konferenz im vergangenen Jahr hat Ito deren Teilnehmern einen Sammelband mit seinen Eröffnungsreden und Beiträgen auf Rosa-Luxemburg-Veranstaltungen seit 1991 sowie mit einigen ausgewählten Aufsätzen auch aus der Zeit davor geschenkt: »Guide to the Thougth of Rosa Luxemburg«. Dieser »Wegweiser zu Gedanken Rosa Luxemburgs« spiegelt sowohl die Forschungsergebnisse des Rosa-Luxemburg-Experten aus dem Land der aufgehenden Sonne wie auch die oben beschriebene Vorgeschichte und Geschichte der internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft. Letztere dann auch an das interessierte Publikum zu vermitteln, ist ihm wichtig. Ein Aspekt ist besonders hervorhebenswert. Während bis 1989 die Unterschiede zwischen Rosa Luxemburg und Lenin, insbesondere Paul Levis oben genanntes Sakrileg den ideologischen Streit um Rosa Luxemburg beherrschten, kündet Itos »Wegweiser« davon, dass unter den veränderten historischen Bedingungen des globalen Kapitalismus neue Fragen angedacht werden. Einige seiner markanten Einsichten aus der Analyse des Werkes Rosa Luxemburg seien hier hervorgehoben:
Die soziale Revolution kann nur eine Majoritätsrevolution sein und bedarf deshalb sowohl hoch entwickelter technologischer wie auch reifer subjektiver Voraussetzungen. Die bolschewistische Revolution musste im Vergleich zu ihrem hehren Ziel deformieren, weil sie nur als internationale Umwälzung eine Zukunft hatte. Die beiden aus der kommunistischen Revolution hervorgegangenen größten zentralistischen Staaten der Erde, die Sowjetunion und China, waren Modernisierungsvarianten, denen der Schritt zur dezentralisierten Selbstverwaltung, worin Rosa Luxemburg ein wichtiges Wesensmerkmal des Sozialismus sah, nicht gelang. Unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus haben solidarische vorkapitalistische soziale Beziehungen keine Zukunftschancen. Die ökonomischen Sachzwänge der Kapitalverwertung ermöglichen weder zwischenstaatlichen noch sozialen Frieden. Dieser ist nur denkbar nach Überwindung des Kapitalverhältnisses. Die Menschheit muss sich entscheiden, in welcher Gesellschaft sie leben will.
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