Spontanes Kalkül

Hans Hartung: Verblüffende Farbräume und Fotografien in Leipzig

  • Martina Jammers
  • Lesedauer: 5 Min.

Seinen Durchbruch erlebte er im Westdeutschland der fünfziger Jahre mit parallel und diagonal geführten Pinselstrichen, die an schwankende Gräser erinnern, den Eindruck leiser Bewegung evozieren. Der konstruktivistischen Kunst von Lineal und Zirkel stellte er seine emotionale Handschrift entgegen. Das Gestische gepaart mit dem Meditativen wurde zu seinem Markenzeichen. Wie Soulages, Wols und Fautrier hatte sich der 1904 geborene Hans Hartung (gestorben 1989 in Antibes als französischer Staatsbürger) weitgehend von festen Regeln der Komposition gelöst und zählt zum legeren Bund der »École de Paris«. Mit seinen an fernöstliche Kalligraphien gemahnenden Abstraktionen avancierte Hartung zu einem der wichtigsten Vertreter des Informel. Gefeiert wurde er sogleich auf der ersten documenta 1955. Während der nächsten Kasseler Leistungsschau vier Jahre später gewährte man ihm einen zentralen Saal mit fünf Gemälden. Doch trat am selben Ort der energische »Jack the Dripper« auf den Plan, der zwar bereits 1956 bei einem Autounfall ums Leben gekommen war und nun posthum mit seiner ungekünstelten Spontaneität das Publikum verzauberte.

Unermüdlich kämpfte Hartung sein Leben lang gegen einen eng umrissenen Stil an und zeigte sich bis in seine letzten Jahre als großer Freund technischer Erneuerungen. Lange hat er dem Eindruck nicht widersprochen, dass seine gestischen Bilder in direkter Aktion auf der Leinwand als unmittelbarer Ausdruck von Emotionen entstanden seien. Mit diesem Mythos räumt jetzt das Leipziger Museum der bildenden Künste auf in seiner umfassenden Retrospektive für den einstigen Sohn der Stadt, die eigentlich schon für den hundertsten Geburtstag anvisiert war. Unter dem schönen Oxymoron im Titel »Spontanes Kalkül« wird das kleinste gemeinsame Vielfache fassbar, welches das erstaunliche Frühwerk verbindet mit den späten Großformaten, die an Explosionen von Gestirnen denken lassen. Naturgemäß wird dem Frühwerk in Hartungs Heimatstadt besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Verblüffend sind seine Tuschezeichnungen vom Altar der Dresdner Hofkirche (1922): Mit ungemeiner Souveränität über den Tuschepinsel erfasst der erst Neunzehnjährige die ins Flächenhafte übertragene markante Raumbühne des Hochaltars, der stufenweise ins barocke Kirchengewölbe hineinwächst. Nach einem Jahr Kunststudium in Leipzig wechselt er 1926 schließlich nach Dresden, wo er die französische Malerei der Moderne für sich entdeckt. Braque, Picasso und Delaunay werden zu seinen Leitsternen. Die Farbe packte ihn vollends. Allerdings halten sich in seiner nun sprudelnden Folge von Zeichnungen Mitte der 20er Jahre Expression und Kontrolle, Leidenschaft und Distanz, Schnelligkeit und abrupte Brüche die Waage. »Mit einer Mappe dieser formalisierten und technisch wirkenden Blätter hätte er sich am Bauhaus bewerben können«, resümiert Kurator Jan Nicolaisen. Obwohl etliche seiner Aquarelle Affinitäten zu Kandinskys Amöbenabstraktionen aufweisen, bleibt doch Hartungs Verhältnis zu ihm eigentümlich ambivalent. Nach einem Vortrag des Meisters über das Bauhaus mokiert er sich: »Er ist ein berechnender russischer Dandy. Alles andere als Künstler. Anschließend (...) ein Farbenspiel!! Reflektierendes Farbenspiel von so einem Bonzen aus dem Bauhaus ›ein Wunder das alle Filmkunst übertrifft!‹ Eine kindische technische Spielerei verbunden mit dem haarsträubendsten Kitsch!«

Vollends faszinieren Hartungs Arbeiten der 60er und 70er Jahre. Er malt nun nicht mehr mit Öl, sondern mit schneller trocknenden Acryl- und Vinylfarben, die eine spontanere Arbeitsweise erlauben. Überdies sprüht er die Farben auf und erzeugt damit dunstig-verschwommene, weich gerundete Formareale – dies war nicht nur seinem amputierten Bein geschuldet, das der 1939 freiwillig in die französische Fremdenlegion Eingetretene 1944 verlor. Mit Effet kratzt er in die frische Farbe mit Stahlbürsten oder dem Pinselschaft lineare Muster, die an kalligraphische Zeichnungen der 50er Jahre erinnern. Mit Besen aus Olivenzweigen peitscht er die Farben zusätzlich auf. Obgleich die derart inszenierten Farbräume eine Verwandtschaft mit den Übergangslandschaften eines Caspar David Friedrich nicht leugnen können, eignet ihnen andererseits ein technoider Zug. Seine Oberflächen lassen an das nervöse Flimmern von Bildschirmen denken. Der Eindruck täuscht nicht. In seinem »Selbstportrait« charakterisiert sich Hartung »als einen lebenslangen leidenschaftlichen Fotografen«. Bereits als Zwölfjähriger montiert er sich eine Linse auf eine Zigarrenkiste seines Vaters, um die Dresdner Frauenkirche, seine Schwester oder den Mond zu fotografieren. Drei Themenfelder, die in der Folgezeit als Sujets wiederkehren: Architektur, porträtähnliche Studien und vor allem sphärische Erscheinungen als Aufnahmen von Licht, Schatten und Wolken. Hartung sah seine Fotografie in Korrespondenz zur Malerei, als eigenständige Kunstform und als dokumentarisches Hilfsmittel, das auch verworfene Werkstufen fixierte. Tatsächlich sind die drei Bereiche nicht scharf voneinander zu trennen.

Das fotografische Oeuvre ist die eigentliche Überraschung in Leipzig. Ihn treibt mehr um als die zeittypische Verfremdung der Wahrnehmung durch ungewöhnliche Blickpunkte. Magisch zieht ihn – wie bei seiner Malerei – einerseits das Festgefügte und Zeichenhafte an, andererseits das Amorphe und Vorübergehende. Von hier aus erklärt sich seine fast manische Beschäftigung mit dem Motiv der Wolken, die ihn im Übrigen mit Gerhard Richters Wolkenbildern verbindet. Bekanntlich übertrug Richter seit 1962 die Unschärfe fotografischer Bilder durch die Technik der Verwischung in die Malerei. Womöglich hat für beide hier Alfred Stieglitz mit seiner Wolkenserie von 1923-32 Pate gestanden. In den 60er Jahren erprobte Hartung in zahlreichen Fotografien, wie sich Materie, Struktur und Form durch extreme Lichtkontraste und Bewegung auflösen. Die ins Unendliche sich entgrenzenden Kuppeln maurischer Kirchen sind dafür nur ein prägnantes Beispiel. Nachtaufnahmen aus Hotelzimmern oder fahrenden Taxen sind andere. Ein weiterer Aspekt der Fotografie Hartungs ist sein Interesse an Strukturen. Im Unterschied zu formanalytischen Stuhlreihen eines Josef Albers etwa erscheinen sein Liniengewirr eines Fischernetzes oder chaotisch gestapelte Obstkisten weniger distanziert und auch nicht so intellektuell. Angesichts all dieser Aufnahmen wundert es nicht, dass der große Poet der lyrischen Abstraktion bekannte, gerne Filmemacher oder Fotograf geworden zu sein. Seine Lust am Komponieren von Szenen, die Zeit und Bewegung enthalten, ist vielen Aufnahmen anzumerken. Dazu gehören auch seine Fotos von Galerie- und Museumsräumen. Das Aufeinanderprallen von Kunst und Publikum, von verschiedenen Realitätsebenen zog ihn ganz in seinen Bann.

»Hans Hartung. Spontanes Kalkül« ist bis zum 10. Februar im Museum der bildenden Künste in Leipzig zu sehen. Anschließend in der Kunsthalle Kiel vom 15. März bis zum 18. Mai 2008. Der ausgezeichnete Katalog kostet 48 EUR.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal