Ein Dämon wird entzaubert

Vor 75 Jahren starb der deutsche Physiker Felix Auerbach

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

Keine andere Größe in der Physik hat einen so schlechten Ruf wie die Entropie. Denn als essenzieller Bestandteil des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik beschreibt sie die Erfahrungstatsache, dass »hochwertige« Energie immerfort in Wärme verwandelt wird und daher für den Menschen gleichsam verloren geht. Schon 1902 sprach der deutsche Physiker Felix Auerbach in einem viel beachteten und publizierten Vortrag von der Entropie als einem »bösen Dämon«, der die Königin der Welt, die Energie, ständig in ihrem Tun beeinträchtige. Bei vielen Wissenschaftlern galt die Entropie hinfort als Inbegriff von Zerstörung und Zerfall sowie als letzter Grund dafür, dass das Universum in ferner Zukunft den Wärmetod sterben wird.

Eine Frage allerdings blieb: Wie ist die wachsende Komplexität der belebten Natur mit der im zweiten Hauptsatz festgeschriebenen destruktiven Kraft der Entropie zu vereinen? Während manche Forscher sich mit der Hypothese behalfen, dass in allen Organismen eine physikalisch nicht fassbare Lebenskraft wirke, suchte Auerbach die Lösung des Problems diesseits der Physik. Das heißt, er hielt am Entropieprinzip fest, ergänzte dieses aber um das sogenannte Ektropieprinzip, wobei er mit dem Wort »Ektropie« die Wirkungsfähigkeit der Energie bezeichnete. Sonach ließe sich der Satz vom Wärmetod wie folgt formulieren: Die Ektropie der Welt strebt einem Minimum zu.

Um einen solchen Prozess überhaupt zu ermöglichen, setzte Auerbach voraus, dass der Kosmos am Urbeginn ektropisch aufgeladen war – so wie eine Uhr, die man ebenfalls aufziehen muss, bevor sie abläuft. Ähnliche Gedanken hatte um 1895 auch der österreichische Physiker Ludwig Boltzmann im Rahmen seiner Fluktuationshypothese entwickelt. Danach befindet sich das Universum als Ganzes im Wärmegleichgewicht, jedoch wird dieser Zustand unentwegt durch Fluktuationen modifiziert. Denn wie Boltzmann zeigen konnte, ist der zweite Hauptsatz der Thermodynamik ein statistisches Gesetz. So gesehen wäre unsere Welt nichts anderes als eine gigantische kosmische Fluktuation, in der die Entropie anfangs gering oder, um mit Auerbach zu sprechen, die Ektropie hoch war. Im Ektropiekonzept von Auerbach sei ohne Zweifel das grundlegende Prinzip der Selbstorganisation enthalten, meint der Berliner Wissenschaftsphilosoph Fritz Gehlhar. Dieses besagt, dass in thermodynamischen Systemen durch die Aufnahme von arbeitsfähiger sowie die Abgabe von entwerteter Energie Ordnung entsteht. Die Herausbildung und Entwicklung des Lebens auf der Erde kann mithin kurz und schlicht als ektropischer Prozess charakterisiert werden, der in sich zeitlich begrenzt ist. Denn alle Fluktuationen bzw. »Einzelwelten« verschwinden über kurz oder lang. Dafür treten in den unermesslichen Weiten des Alls mit Notwendigkeit neue Fluktuationen auf – und die Auerbachsche Ektropie sorgt gegebenenfalls auch dort für die Entstehung lebendiger Ordnung.

Als Sohn eines Arztes wurde Felix Auerbach am 12. November 1856 in Breslau geboren. Nach dem Abitur studierte er an verschiedenen Universitäten Physik und promovierte 1875 bei Hermann von Helmholtz in Berlin. Anschließend kehrte er nach Breslau zurück, wo er 1883 Anna Silbergleit heiratete, die später dem mitteldeutschen Frauenbund vorstand und für das Frauenwahlrecht kämpfte. Die Ehe blieb kinderlos. 1889 wurde Auerbach als Professor für theoretische Physik an die Universität Jena berufen. Mit seinen Vorlesungen und Büchern etwa über die Relativitätstheorie beeinflusste er hier neben zahlreichen Naturforschern auch einige namhafte Künstler des Weimarer Bauhauses wie Paul Klee und Wassily Kandinsky. 1924 erbaute Walter Gropius nach dem Prinzip des »Baukastens im Großen« für die Auerbachs ein Wohnhaus, in dem sich gelegentlich die Jenaer Kulturszene traf. Mit Beginn der 30er Jahre litt Auerbach, der Jude war, zunehmend unter der von den Nazis geschürten antisemitischen Hetze in Deutschland. Am 26. Februar 1933 wählten er und seine Frau den Freitod.

Die Lebensgeschichte von Felix Auerbach wäre indes unvollständig, würde man nicht erwähnen, dass 1920 ein junger Österreicher nach Jena kam, um an der Universität die Kursvorlesungen im Fach Physik zu ergänzen. Sein Name: Erwin Schrödinger. Dieser war nach eigenem Bekunden von der Freundschaft und Herzlichkeit der Auerbachs besonders angetan. Einige Jahre später begründete Schrödinger die Wellenmechanik und erhielt dafür 1933 den Nobelpreis. 1944 erschien überdies sein Buch »Was ist Leben?« als ein Versuch, molekularbiologische Themen mit den Instrumentarien der Physik zu bearbeiten. Darin findet sich unter anderem die Erkenntnis, dass Leben nur in offenen thermodynamischen Systemen entstehen kann und dass diese Systeme beständig Entropie an ihre Umwelt abführen müssen, um den lebendigen Zustand aufrecht erhalten zu können. Oder, wie Schrödinger pointierte: Organismen ernähren sich von negativer Entropie, von Negentropie. An dieser Stelle zumindest wird man unwillkürlich an Auerbachs Ektropiekonzept erinnert, das Schrödinger aber nirgends erwähnt. Gleichwohl steht zu vermuten, dass er spätestens in Jena davon Kenntnis erlangte. Und auch wenn Schrödinger im nachhinein einräumen musste, dass er statt von Negentropie besser von freier Energie (bzw. Enthalpie) gesprochen hätte, wirkten seine Ideen in den 1950er Jahren wie eine Art Initialzündung für die Entwicklung der Molekulargenetik. Dafür wird Schrödinger von Biologen bis heute verehrt, hingegen sucht man den Namen Felix Auerbach in historischen Darstellungen der Biologie zumeist vergeblich.

Aus Auerbachs Jenaer Vorlesungen ist 1923 das Buch »Entwicklungsgeschichte der modernen Physik« hervorgegangen, welches der Saarbrücker VDM-Verlag Dr. Müller jetzt als Reprint (344 S., 49 EUR) neu veröffentlicht hat.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.