Totenbuch zum sowjetischen Speziallager

Drei Forscherinnen wälzten in der Gedenkstätte Sachsenhausen mehr als zwei Jahre lang Dokumente

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 3 Min.

Im Juli 1945 verhaftete der sowjetische Geheimdienst NKWD Ernst Prochnow. Der Kaufmann aus Potsdam kam ins Speziallager Nr. 7 in Weesow bei Werneuchen. Dieses Lager wurde im August auf das alte Gelände des Konzentrationslagers Sachsenhausen verlegt. Dort starb Prochnow am 3. Februar 1947. Seiner Familie wurden der Tag und die Ursache des Todes nicht genannt.

Jetzt ist ein Totenbuch zum Speziallager Sachsenhausen so gut wie fertig. Das Manuskript überreichte der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Günter Morsch, gestern dem ehemaligen Häftling Horst Jähnichen. Dieser ist Vorsitzender des Speziallager-Beirats der Stiftung.

Manuskriptseiten liegen nun im Archiv und in der Bibliothek der Gedenkstätte aus. Angehörige werden gebeten, dienstags bis freitags zwischen 9 und 15.30 Uhr Einsicht zu nehmen und auf eventuelle Fehler hinzuweisen. In der zweiten Jahreshälfte soll das korrigierte Totenbuch dann gedruckt werden.

»Das Totenbuch ist zweifellos eine Art Gedenkstein für die Opfer des sowjetischen Speziallagers«, sagte Morsch. Die Leichen seien damals in der Nacht auf Laster geladen und heimlich verscharrt worden.

Im Speziallager Sachsenhausen saßen zwischen 1945 und 1950 rund 60 000 Menschen, von denen knapp 12 000 starben. Zu den Häftlingen gehörten auch vormalige Aufseherinnen des KZ Ravensbrück. Der Anteil der eingesperrten Nazi-Täter lässt sich Morsch zufolge jedoch beim gegenwärtigen Forschungsstand noch nicht beziffern. Nur soviel: Von den 17 000 Häftlingen, die ein sowjetisches Militärtribunal verurteilt hatte, waren 17 Prozent Nazi-Belastete. 30 000 Menschen sind aufgrund des Potsdamer Abkommens ohne Gerichtsverhandlung interniert worden. Bei ihnen habe die Zahl der NSDAP-Mitglieder über 50 Prozent gelegen, sagte Morsch.

In den Sanitätsberichten des Speziallagers sind 11 774 Tote verzeichnet. Projektleiterin Ines Reich und zwei Mitarbeiterinnen wälzten mehr als zwei Jahre lang sowjetische und deutsche Dokumente und kamen auf 11 890 Tote. Damit gilt als erwiesen, dass es deutlich weniger Tote gab als zwischenzeitlich angenommen.

Insbesondere bei Zeitzeugen habe es in den 1990er Jahren ein grundsätzliches Misstrauen und die Vermutung gegeben, dass die Unterlagen in Moskau in großem Stil gefälscht worden sind, hieß es gestern. Man vermutete bis zu 30 000 Tote. Aber: »Die wissenschaftliche Forschung konnte für systematische Fälschungen keine Belege finden.«

Die Todesfälle sind laut Reich »im Grunde genommen alle« auf schlechte Ernährung und die hygienischen Bedingungen zurückzuführen. Vor allem die Tuberkulose grassierte. Es gab daneben einige Häftlinge, die zu fliehen versuchten und dabei erschossen wurden. Sieben Protokolle dazu sind überliefert.

1945 und 1946 – in der größten Not der Nachkriegszeit – starben jeweils etwa 2300 Häftlinge, 1947 dann 4700. Morsch führt den sprunghaften Anstieg im Jahr 1947 auf die »verhängnisvolle Herabsetzung der Essensrationen« Ende 1946 zurück. Dafür, dass das Sterben durch den Hunger beabsichtigt war, sieht Morsch keinen Beweis. Stalin und Berija persönlich hätten die Ursache für die vielen Todesfälle erkannt und für Korrekturen gesorgt. 1948 starben dann 1700 Häftlinge, im Jahr darauf 700 und ein weiteres Jahr später noch 44.

Es kamen vor allem ältere und alte Männer ums Leben. Die These, die Mehrheit der Toten seien »unschuldige Jugendliche« gewesen, sei falsch, erzählte Morsch. Nur vier Prozent der Toten waren nicht erwachsen. Der heute 77-jährige Gerhard Taege betonte indessen, gerade die Jugendlichen im Wachstum seien mit dem kleinen Teller Suppe nicht ausgekommen und deswegen in Lebensgefahr gewesen. »Wir hatten immer Hunger.«

Gedenkstätte Sachsenhausen, Str. der Nationen 22 in Oranienburg

• Nach wie vor seien 1,3 Millionen Schicksale aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit ungeklärt, sagt Hansjörg Kalcyk vom Münchner Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes. Auch jetzt noch gebe es pro Jahr 20 000 Anfragen der Kinder- und Enkelgeneration.
• In den zehn Speziallagern in der sowjetisch besetzten Zone gab es 140 000 Häftlinge.
• Die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur förderte die Erarbeitung des Totenbuches mit 160 000 Euro.
• 18 Prozent der von Militärtribunalen verurteilten Häftlinge im Speziallager Sachsenhausen waren SED-Mitglieder.
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