Erst sterilisiert, dann getötet

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 2 Min.

Die angeblich an erblicher Fallsucht leidende Emma L. aus Finsterwalde sollte unfruchtbar gemacht werden. Die Frau und ihr Mann wehrten sich. Der Hausarzt wies auf die Gefahr bei einer Operation hin: Emma L. litt an einem schweren Herzfehler. Doch das faschistische Erbgesundheitsgericht Cottbus und das Erbgesundheitsobergericht Berlin scherten sich nicht um die Warnung. Die 31-Jährige starb 1935 neun Tage nach dem Eingriff wegen einer doppelseitigen Pneumonie und hochgradiger Herz- und Kreislaufschwäche.

Mit vielen Beispielen erzählt Annette Hinz-Wessels in ihrem Buch »NS-Erbgesundheitsgerichte und Zwangssterilisation« von Opfern des Rassenwahns der Nazis. Schätzungsweise 15 000 Männer und Frauen sind in Brandenburg gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht worden. Dafür reichte es aus, schizophren, schwer alkoholabhängig, von Geburt an blind oder taub oder schwer körperlich behindert zu sein. Die häufigste Diagnose lautete »angeborener Schwachsinn«. Diese Diagnose wurde nach einem schematischen Intelligenztest gestellt, der allein schon deshalb fragwürdig war, weil er Wissen abfragte, dass etlichen Dorfbewohnern einfach deshalb fehlte, weil sie schon früh in der Landwirtschaft mithelfen mussten und darum nicht genug Zeit für ihre Schulbildung hatten.

Die Kommentatoren des am 1. Januar 1934 in Kraft getretenen »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« behaupteten zwar, die Wissenschaft könne mit großer Wahrscheinlichkeit vorhersagen, ob Erbschäden auftreten werden. Das konnte die Forschung zum damaligen Zeitpunkt jedoch keineswegs. Die Genetik steckte noch in den Anfängen.

Über die Sterilisierung von Kranken wurde bereits vor '33 debattiert – sogar in der SPD – und der preußische Gesundheitsrat ließ 1932 einen Gesetzentwurf erarbeiten. Dieser sah allerdings nur freiwillige Eingriffe vor. Erst die Nazis machten Ernst und zwangen die Betroffenen zur Operation. Viele behielten Schäden zurück, etwa ein Blasenleiden. Die psychischen Folgen sind gar nicht dokumentiert. Die Zwangssterilisation gilt als Vorstufe zum Krankenmord. Etliche Sterilisierte sind später im Rahmen der berüchtigten Aktion »T4« getötet worden.

Annette Hinz-Wessels: »NS-Erbgesundheitsgerichte und Zwangssterilisation in der Provinz Brandenburg«, 245 Seiten (Hardcover), be.bra-Verlag, 24,90 Euro, ND-Bestellservice (030) 29 78 17 77

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