Menschenexperimente

Die Welle von Dennis Gansel

  • Hanno Harnisch
  • Lesedauer: 4 Min.

Man kann einen Film kaputtreden, bevor er ins Kino kommt. Diese Gefahr besteht auch für Dennis Gansels »Die Welle«. Überall wird die Geschichte breitgetreten, die doch im Film erst so richtig spannend werden soll. Sogar im Parteivorstand der SPD diskutierte in den verrückten Tagen der Berlinale (Wochen vor Ypsilanti) Frank-Walter Steinmeier mit den Filmemachern und vielen Freunden der regierenden Sozialdemokratie darüber, ob Faschismus heute noch möglich sein kann, wie schlimm denn Extremismus ist. Der Film sagt eindeutig: Ja, es ist möglich, es kann schlimm sein. Er beruht auf einem Tatsachenbericht, den Morton Rhue 1981 zu einem Jugendbuchthriller gemacht hat, der längst seinen Weg in deutsche (und internationale) Rahmenlehrpläne gefunden hat. Der Geschichtslehrer Ron Jones hatte im Jahr 1967 mit einer High-Scool-Klasse in Palo Alto, Kalifornien, ein Experiment gestartet. Er zeigte einen Film über die Nazizeit. Seine Schüler – in der Gegend und in der Zeit des »Summer of Love« – konnten nicht begreifen, wie ein ganzes Land sich für so eine abartige Ideologie begeistern konnte. Jones kreierte die Bewegung »dritte Welle«, wurde vom Kumpel zum Führer. Nach fünf Tagen hatte er eine Klasse von lauter Nazis vor sich. Er musste sein Menschenexperiment, seinen »Unterrichtsversuch, der zu weit ging«, abbrechen. Morton Rhue bendet sein Buch darüber mit dem Satz: »Während des ganzen Experiments hat sich niemand dagegen gewehrt, kein Schüler, kein Lehrer, von den Eltern niemand und niemand von den Geistlichen – und das ist es, was mich erschreckt.«

Genau das muss es sein, was den jungen deutschen Regisseur Dennis Gansel angezogen hat an diesem Stoff: »Ich bin der Meinung, dass die Dinge, die diesem Experiment zugrunde liegen – diese Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Aufforderung und nach einer bestimmten Gruppierung, dass das einfach so stark ist, dass das heutzutage noch immer passieren kann.« So hat er (mit seinem Koautor Peter Thorwarth) den Stoff in die deutsche Gegenwart gehoben. Er hat sich daran verhoben, dennoch einen beängstigenden Film gemacht.

Jürgen Vogel spielt den Gymnasiallehrer Rainer. Er ist ein Typ, bei dem Schüler heutzutage gerne Unterricht hätten. Ex-Hausbesetzer, irgendwie links, cool bis zum Gehtnichtmehr. Der Lehrplan sieht eine Projektwoche vor. Thema Staatsformen. Rainer hätte gerne über »Anarchie« geredet, das kann er. Geht aber nicht, ist schon belegt durch einen »bürgerlichen« Kollegen. Also muss er »Autokratie« machen. Schreibt es an die Tafel. Tausend Mal gehört, tausend Mal hat's nicht gestört. »Nazideutschland war Scheiße. Langsam hab ich's auch kapiert«, so mosert ein Schüler. »Außerdem passiert hier so etwas eh nicht mehr!« Rainer motzt zurück: »Ihr seid also der Meinung, dass 'ne Diktatur heute in Deutschland nicht mehr möglich wäre?« Sie ist. Gansel will es so. Will zeigen, was passiert, wenn eine Gruppe plötzlich einer Leitfigur folgt. Aus dem lockeren Rainer wird über Nacht »Herr Wenger«. »Macht durch Disziplin«, »Macht durch Gemeinschaft« und schließlich »Macht durch Handeln« sind der neue Zeigefinger. Mit strukturierten Diskussionen, einheitlicher Kleidung (und wenn es nur ein unschuldiges weißes Hemd ist) bringt er seine Klasse bald in eine beängstigende Gruppendynamik. Sie werden intolerant, militant, berechnend und unberechenbar.

Regisseur Dennis Gansel hat bereits in seinem Film »Napola« die Verführbarkeit junger gläubiger Menschen durch nationalsozialistische Führer ins Bild gesetzt. Bei den Dreharbeiten zu »Die Welle« hat er analoge Erfahrungen gemacht: »Die Leute, die im Drehbuch miteinander zu tun hatten, Zeit miteinander verbrachten, die haben sich abends angerufen, haben zeitweise die weißen Hemden in ihrer Privatzeit getragen.«

Der Film ist Schulfernsehen in Sachen Gemeinschaftskunde. Aber er ist spannend. Gansel will mit allen Mitteln zeigen, wie extremer Autoritätsgehorsam möglich werden kann. Einzig Karo (Jennifer Ulrich) lässt er dem Gruppendruck widerstehen. Sie kommt nicht mit weißem Hemd, sondern in Rot, druckt Gegenflugblätter. Alleingelassen von fast allen, auch von ihrem Freund Marco (Max Riemelt, der bei Gansel schon der Boxer Friedrich in »Napola« war). Tim (beängstgend gut und tragisch als verführbarer Außenseiter: Frederick Lau) bietet sich Wenger gar als Leibwächter an, dringt in die Privatsphäre seines (ein wenig zu schönen) Hausboots mit seiner schwangeren Frau (Christiane Paul, hier leider ein wenig zu unterfordert) ein.

»Die Welle« soll moderne Jugendkultur simulieren, mit Logos, Grußformeln, Sportwettkampf, Feten und Internetauftritt. Doch sie läuft aus dem Ruder, auch dem Regisseur. Man kann ein Thema kaputtmachen, trotz gediegener literarischer Vorlage, bester Absicht und hervorragender Darsteller.

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