1968 – Chiffre eines globalen Aufbruchs

Dokumentiert: Ein Diskussionspapier der Historischen Kommission beim Parteivorstand der LINKEN

  • Marcel Bois und Florian Wilde
  • Lesedauer: 6 Min.
Londoner Studenten klagen die Labour Party des Bündnisses mit den USA im Vietnamkrieg an.
Londoner Studenten klagen die Labour Party des Bündnisses mit den USA im Vietnamkrieg an.

Auch vierzig Jahre danach verleiten die Studierendenproteste von 1968 zu hitzigen Debatten. Die einen sehen die Bewegung jenes Jahres lediglich als Vorläufer des Terrors der RAF oder sie vergleichen gar die protestierenden Studenten mit den Anhängern Hitlers. Für die anderen führte 1968 zur »Neu- und Umgründung der Bundesrepublik«, die in den »Kanon der westlichen Demokratien aufgenommen« wurde. Die Proteste werden als eine Art Katalysator einer »Fundamentalliberalisierung« gesehen.

Wir hingegen sind der Meinung, dass »1968« vor allem die Chiffre für eine bis in die späten 1970er Jahre währende Epoche globalen gesellschaftlichen Aufbruchs ist, die sich vor allem auf die Jahre 1967 bis 1969 fokussiert.

Die Neuen Linken

1968 steht für weltweite Studierendenproteste, den »Pariser Mai« – den wochenlangen Generalstreik in Frankreich – und Fabrikbesetzungen in Italien. Es steht für die Reformversuche in der Tschechoslowakei, einen »Sozialismus mit menschlichen Antlitz« zu schaffen. Es ist zudem ein Synonym für den weltweiten Widerstand gegen den grausamen Krieg der USA in Vietnam, für die antikolonialen Befreiungsbewegungen in der »Dritten Welt« und die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den USA.

Das grundsätzliche Ziel, das viele 68er verfolgt haben – eine fundamentale demokratisch-sozialistische Veränderung der Gesellschaften im Osten und im Westen – haben sie nicht erreicht. Wohl aber wirken viele Errungenschaften der Bewegung noch bis heute nach. Mit dem Jahr 1968 verbinden sich für Linke im Westen und im Osten Deutschlands sehr unterschiedliche Erfahrungen. Während in der DDR der »Prager Frühling« und seine Niederschlagung stark prägend waren, dominieren im Westen Erfahrungen aus der außerparlamentarischen Opposition ...

In historisch fast einzigartiger Form verdichteten sich 1967-69 verschiedene Emanzipationsbewegungen zu einem globalen Aufbruch einer »Neuen Linken«. Es waren vor allem drei unterschiedliche Stränge, die in diesen Jahren zusammentrafen und sich gegenseitig beeinflussten: Eine gegen die »fordistische Fabrikgesellschaft« und ihren oft autoritären staatlichen Überbau gerichtete Revolte in den Ländern des kapitalistischen Westens, der Versuch eines demokratisch-sozialistischen Ausbruches aus den bürokratischen Strukturen der post-stalinistischen Länder des Ostblocks und das Erstarken der antikolonialen Befreiungskämpfe in Ländern des Südens.

Die Revolte im Westen

Das für den Antikommunismus wesentliche Bild eines freien und demokratischen Westens geriet unter dem Eindruck des brutal geführten Krieges der USA in Vietnam, der Aufstände der Schwarzen in den Ghettos der USA und dem engen Bündnis westlicher Regierungen mit diktatorischen, zum Teil faschistischen Regimes (Portugal, Spanien, Griechenland, aber auch Iran und anderen) in die Krise. In der BRD kam die oft ungebrochene persönliche Kontinuität ehemaliger NS-Funktionäre im Staatsapparat hinzu. Die ideologische Krise des Antikommunismus schuf den Raum für die Entstehung einer neuen, sozialistischen Linken. Diese verband sich in vielen Ländern mit der Zunahme von Arbeiterbewegungen, die ihren Höhepunkt namentlich im mehrwöchigen Generalstreik des Pariser Mai 1968 und den Kämpfen in Italien 1969 und den frühen 70er Jahren erlebten. Hinzu kam eine oft subkulturell geprägte antiautoritäre Jugendbewegung. Sie kollidierte mit polizeilichen Repressionen gegen neue Formen jugendlichen Freizeitverhaltens (Rock-Musik, Aussteigertum, Drogen) ebenso wie mit autoritären Strukturen in Schule, Universität und Betrieb.

Der Aufbruch im Osten

Gegen die bürokratische Pervertierung der Emanzipationsversprechen des Sozialismus im Osten entstand namentlich in der CSSR eine breite, von Teilen des Parteiapparates unterstützte Bewegung für einen demokratischen Sozialismus. In Polen protestierten Studenten im März 1968 gegen nationalistische und antisemitische Tendenzen im Land. Sie forderten in einer Erklärung der Studentenbewegung u. a. die Abschaffung der Zensur, Wirtschaftsreformen und unabhängige Gewerkschaften. In Jugoslawien suchte die »Praxis-Gruppe« nach Verbindungen zum kritischen Marxismus des Westens, auch in Belgrad besetzten Studierende die Fakultäten. Alle diese Erneuerungsversuche im Osten scheiterten. Das repressive Gesicht des Post-Stalinismus zeigte sich, als die Panzer des Warschauer Paktes den »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« in den Straßen von Prag unter sich begruben.

Die antikolonialen Kämpfe

Als im Januar 1968 vietnamesische Befreiungskämpfer amerikanische Bodentruppen in Saigon und anderen südvietnamesischen Städten angriffen, wurde der Welt demonstriert: Die größte Supermacht der Welt, die USA, kann herausgefordert werden. Dies inspirierte nicht nur die Anti-Kriegs-Bewegung im Westen, sondern auch die antikolonialen Kämpfe der »Dritten Welt« erhielten einen neuen Aufschwung, der in der Unabhängigkeit Indochinas und der verbliebenen portugiesischen Kolonien in Afrika in den 70er Jahren mündete. Die Studierendenproteste anlässlich der Olympischen Spiele 1968 in Mexiko, die Entstehung linker Guerilla-Gruppen und der Aufschwung sozialer Bewegungen in Lateinamerika verdeutlichen die globale Dimension der Revolte. ..

Trotz aller Erfolge der Revolte: Die emanzipatorischen Visionen von 1968 – einer freien, demokratischen und sozialistischen Gesellschaft – wurden nicht eingelöst, viele Errungenschaften später wieder zurückgenommen. Inzwischen werden Studiengebühren eingeführt, Arbeiterkinder aus den Universitäten verdrängt. Marxistische Wissenschaft hat an Hochschulen kaum noch Platz. Betriebliche Demokratie ist auf dem Rückzug. Errungenschaften der Frauenbewegung werden in Frage gestellt. Nazis sitzen wieder in Parlamenten. Trotz aller Erfolge der antikolonialen Befreiungskämpfe dauert die Ausbeutung der Länder der »Dritten Welt« an.

Einige Forderungen der 68er wurden aufgegriffen, aber vor dem Hintergrund der (Teil-)Niederlagen der 70er Jahre in ihr Gegenteil verkehrt. Aus der Forderung nach einer freien Gestaltung des Lebens ist der Zwang zu Flexibilität geworden. Aus dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben wurde der Zwang zur Selbstverwertung. In der Alternativkultur entwickelte Formen der Produktion prägen unter umgekehrten Vorzeichen als angeblich »flache Hierarchien« moderne Formen der Ausbeutung.

Erbe und Erfahrungen

Die Partei, die als Erbin der 1968er angetreten ist – Die Grünen – hat das emanzipatorische Erbe spätestens mit dem Kosovo-Krieg oder ihrer Beteiligung an den sozialrepressiven Hartz-Gesetzen aufgeben. Der »Marsch durch die Institutionen« einiger 68er hat diese ebenso von den eigentlichen Zielen der Bewegung entfernt wie diejenigen, die in der Sackgasse des bewaffneten Kampfes der RAF gelandet sind. Ähnliches gilt für die oft dogmatischen und autoritär strukturierten maoistischen Organisationen der 70er Jahre.

Das wesentliche Emanzipationsversprechen von 1968 – ein demokratischer Sozialismus – ist bis heute nicht erfüllt. Trotz geänderter Rahmenbedingungen kann aus der Revolte von 1968 für die heutigen Auseinandersetzungen viel gelernt werden – gerade angesichts von Hunger und Elend in der »Dritten Welt«, immer wiederkehrender Wirtschafts- und Finanzkrisen und der verheerenden Kriege der USA und ihrer Verbündeten in Irak und Afghanistan. Es ist an der LINKEN, sich heute offensiv auch in die positiven Traditionen des Aufbruchs von 1968 jenseits von Staatssozialismus und Kapitalismus zu stellen und – aus den historischen Erfahrungen lernend – einen neuen Aufbruch zu wagen.

Der volle Wortlaut des von Bois und Wilde im Auftrag der Historischen Kommission der LINKEN verfassten Papiers ist demnächst auf der Homepage der Partei zu lesen. Vom 2. bis 4. Mai findet an der Berliner Humboldt-Universität ein Kongress »40 Jahre 1968« statt; www.1968-kongress.de.

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