Im Hochhaus so leben wie auf dem Dorf

Mieter des Schilfhofs 20 in Potsdam stricken an einer neuen Gemeinschaft / Bislang wahrscheinlich einzigartige Konferenz geplant

Im Haus Schilfhof 20 geht es spürbar aufwärts.
Im Haus Schilfhof 20 geht es spürbar aufwärts.

Das Hochhaus Schilfhof Nummer 20 geriet in die Schlagzeilen. Von einem frei zugänglichen Balkon in der 14. Etage stürzte sich am 5. Mai eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter in den Tod. Mit den Verhältnissen im Potsdamer Wohngebiet am Schlaatz hatte das allerdings nichts zu tun. Die Frau, die unter Depressionen litt, lebte gar nicht dort. Die Behörden räumten hinterher Fehler ein. Eventuell hätte der Tod von Mutter und Tochter verhindert werden können.

Die Schwierigkeiten im Schilfhof 20 sind anderer Natur. Etliche Mieter ärgern sich über Vandalismus und Unordnung: zerkratzte Spiegel im Fahrstuhl, beschmierte Wände, zerdepperte Bierflaschen im Flur. Das Haus genießt deswegen in der Umgebung nicht den besten Ruf. Doch die Probleme werden nun womöglich gelöst – durch die Bewohner selbst. Sie sind morgen zu einer ersten Konferenz ins nahe gelegene Haus der Generationen und Kulturen eingeladen. Etwa die Hälfte der Haushalte kündigte an, sich zu beteiligen, erzählt Klaus Jorek. Er wohnt seit 1988 in der 4. Etage und half bei der Vorbereitung des Treffens. Erklärtes Ziel ist ein Haus, in dem die Mieter zusammen basteln und feiern, wo der Nachbar mal auf die Kinder aufpasst oder der Rentnerin hilft. Die Bewohner sollen erzählen, was sie stört, und Vorschläge machen. Viele möchten die Flure wieder selbst wischen. Bevor eine Firma das übernahm, sei es sauberer gewesen, hört man. Einige wünschen sich einen Mieterklub, der in eine der leerstehenden Ein-Raum-Wohnungen einziehen könnte. Anvisiert ist ein Zusammenhalt wie auf dem Dorf. Bei einer zweiten Konferenz im August wollen sich die Beteiligten dann anschauen, wie nah man dem Ziel eines »Wohlfühlhauses« inzwischen ist.

»Wir wollen unser Haus quasi in die eigene Regie nehmen«, sagt Jorek. Der 73-Jährige wohnt gern hier. Er schwärmt von dem kleinen Waldstück nebenan. »Das ist herrlich, da gehe ich Holunder pflücken.« Was sich nun durch die Konferenz im Haus anbahnt, findet er »spannend«.

Eine derartige Konferenz habe es nach seiner Kenntnis bisher noch nie gegeben, erklärt Friedrich Reinsch, der Leiter des Hauses der Generationen und Kulturen. Reinsch hat die alte Idee der Hausgemeinschaft aufgegriffen und ist überrascht, wie begeistert die Mieter darauf reagierten. Es gebe den Wunsch nach Gemeinschaft. »Wir müssen die Menschen nur ermutigen: Macht es doch!«

Die kommunale Wohnungsverwaltungsgesellschaft GEWOBA findet gut, was sich am Schilfhof 20 entwickelt. »Wir erhoffen uns Ergebnisse, die auch auf andere Häuser und Stadtteile übertragen werden können«, sagt Geschäftsführerin Christiane Kleemann, die selbst zur Konferenz kommen will.

Nach Darstellung von Reinsch ist der Schilfhof 20 ein »Brennpunkt«; allerdings ein Brennpunkt, in dem gewissermaßen schon der Funke übergesprungen ist. Klaus Jorek berichtet stolz: »Die Leute grüßen sich wieder, und ich sehe, wie sich Nachbarn angeregt unterhalten, die früher aneinander vorbeigingen.«

• Das Hochhaus Schilfhof 20 verfügt über 16 Etagen mit 94 Wohnungen.

• 23 Wohnungen sind mit Russlanddeutschen und Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion belegt. Zur Hauskonferenz erscheinen deshalb extra fünf Sprachmittler.

• Die ersten Mieter zogen 1983 ein. Sieben Mietparteien von damals sind bis heute geblieben.

• Das Wohngebiet am Schlaatz ist mit Bedacht geplant: Die Straßen und die Schulen sind so gebaut, dass jedes Kind zum Unterricht kommt, ohne einen Fahrdamm überqueren zu müssen.

• Vorgesehen waren eigentlich sechs Hochhäuser, geworden sind es nur drei. Wegen des sumpfigen Untergrundes erwiesen sich die Fundamente als so teuer, dass nach drei Hochhäusern das Geld dafür alle war.

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