Zittaus letzter Reichtum ist Gottvertrauen

  • Thomas Biskupek
  • Lesedauer: 5 Min.
Im 14. Jahrhundert wohlhabendste Stadt Ostsachsens, gehören ihr auch heute viele Ländereien. Von der Wirtschaftskraft des DDR-Industriezentrums ist fast nichts geblieben: Vor den Toren wird noch »Fit« hergestellt
Zittau war einst eine reiche Stadt. Bis hinauf ins Gebirge gehören der Kommune noch heute Ländereien, selbst der sagenumwobene Berg Oybin. Als sich 1346 Bautzen, Görlitz, Löbau, Kamenz, Luban (Lauban) und Zittau zu einem Sechs-Städte-Bund zusammenschlossen, wurden ihnen Privilegien verliehen. Zittau entwickelte sich zur wohlhabendsten Stadt unter ihnen. Auf den ersten Blick ist die Stadt auch heute reich: So viele Immobilienfirmen und -makler wie jene, die allein in der maroden Bahnhofsstraße und in der City ihre Dienste anpreisen, dürfte es pro Kopf der Bevölkerung höchstens in Wiesbaden oder ähnlichen Städten geben. Wovon diese Unternehmen leben, bleibt allerdings schleierhaft, wenn man sich in der Stadt und ringsherum umschaut. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 20 Prozent, auf dem Papier. Tatsächlich fällt sie eher doppelt so hoch aus. Die meisten Betriebe in Zittau sind verschwunden. Immerhin wurden hier früher Robur-Lastkraftwagen, Armaturen, Elektromotoren, Stahlfedern und Funkanlagen hergestellt. Es gab große Textilbetriebe und Gießereien. Fast nichts ist davon übrig geblieben. Wenn der Türmer der Johanniskirche mal einen freien Tag hat, vertritt ihn Peter Rohrbacher, Mittvierziger, Sozialhilfeempfänger. Der gelernte Schweinezüchter verlor nach der Wende seine Arbeit, kam dann noch ein paar Jahre als Betriebsschutz in einem Textilbetrieb unter. Doch auch dort war dann Schluss. »Bei einem Antikmöbelhändler habe ich später den ganzen Tag schwere Möbel geschleppt, treppauf, treppab«, erzählt der Mann. »Am Monatsende gab's dann 1000 Mark. Der hat uns glatt beschissen.« Für die Aushilfe im Turm bekommt Rohbacher ein paar Mark. Ein richtiges Einkommen ist das nicht. Mit dem sozialen Abstieg erlebte er auch den persönlichen, bewohnt mit einer Katze die Dreizimmerwohnung, die einst die Familie beherbergte. Als er den Job bei der Kirche antrat, hatte er einen Bauch vom Nichtstun. Der ist verschwunden, seitdem er die 266 Stufen - manchmal mit einem Getränkekaten, im Winter mit Kohle für den Ofen im Turmzimmer - heraufkraxelt. Das Nichtsun war nicht sein freier Wille. Peter Rohrbacher begreift nicht, wie in einem Land, in dem stets Mangel an Arbeitskräften herrschte, in so kurzer Zeit das völlige Gegenteil entstehen konnte. Er wird es wohl auch nicht mehr begreifen. Von der großen Geschichte der Stadt ahnt man etliches angesichts überkommener Häuserpracht. Das meiste bekam erst nach 1990 wieder Farbe. An vielen Stellen fehlt sie aber auch noch. Trotz all der Immobilienfirmen gibt es zu wenige, die eine Instandsetzung bezahlen können. Finanziert aus dem Bundeshaushalt wurde der Abriss im nahe gelegenen Kraftwerk Hagenwerder, das ebenso wie die Braunkohlengruben viele Arbeitsplätze bot, aber auch zum katastrophalen Zustand der Luft beitrug. Ebenso wenig wie Peter Rohrbacher auf dem Kirchturm begreift die Wandlungen in und um Zittau auch ein etwa 40-jähriger Mann, der uns den Weg zu den »Fit«-Werken in Hirschfelde zeigt. Er brummelt vor sich hin, er habe sowohl im Kraftwerk Hagenwerder als auch in dem von Hirschfelde gearbeitet. Ersteres war eines der größten der DDR, das andere ging bis auf einen Vorläufer von 1911 zurück, als die AEG schon Elektroenergie aus Braunkohle erzeugte. Das ganze 20. Jahrhundert über galt es als vernünftig, den heimischen Rohstoff zu nutzen, auch wenn man das wohl hätte umweltfreundlicher betreiben können. »Aber einfach schließen?« Der Mann schüttelt den Kopf: »Das kann man doch nicht machen. Die haben beide Kraftwerke abgerissen und sich nicht dafür interessiert, was die Belegschaft dann tut. Über der Neiße im polnischen Bogatynia rauchen die Schlote weiter.« Was tut der Kraftwerker heute? »Ich kriege Arbeitslosengeld und mache Nebenarbeiten. 15 Stunden die Woche darf ich. Man will doch arbeiten. ABM hatte ich auch mal. Aber das war wie ein Lottogewinn - eher selten. Manche scheinen beim Arbeitsamt Beziehungen zu haben. Die bekommen dauernd was. Das muss man sich mal vorstellen: Beziehungen beim Arbeitsamt! Man hätte gleich 1990 mit seinen paar Kröten in den Westen gehen sollen. Aber wir haben eben geglaubt, dass alles besser wird.« Der Mann erzählt so resigniert, als wolle er allen Pfeiffers und Roethes aus dem Westen als Beispiel ihrer Vorwürfe dienen. Dass der Übergang zur Marktwirtschaft auch anders verlaufen kann, zeigen die »Fit«-Werke in Hirschfelde vor den Toren Zittaus. 1993 wurde das Unternehmen privatisiert. Den Zuschlag der Treuhandanstalt erhielt ein Mannheimer Chemiker. Dr. Wolfgang Groß habe das beste Konzept vorgelegt. Davon sind auch die verbliebenen Mitarbeiter überzeugt, wenn sie sehen, was sonst noch in der Region überlebte. Hätte der neue Chef alles verramscht und sie zum Schluss beim Arbeitsamt geparkt, wäre das der normale Lauf gewesen. Nachdem aber schon die Treuhand die Belegschaft von 450 auf 61 heruntergefahren hatte, begann der Wiederaufstieg. Fast alles an dem im Osten allenthalben bekannten Erzeugnis ist neu, nur der Name nicht und auch die nicht, die es weiterentwickeln und produzieren. Heute finden wieder mehr als 100 Leute Lohn und Brot in dem Unternehmen. Die Produktion im Wert von 25 Millionen Euro schaffen 30 Beschäftigte. Die anderen entwickeln Neues, kümmern sich um die Verwaltung, müssen die Produkte an den Verbraucher bringen. Für die Älteren ist es schwer zu begreifen, dass mehr Geld in Marketing als in die Produktion gesteckt wird, dass wirtschaftlich auf der Strecke bleibt, wer das nicht so tut. Auch deshalb kaufte Unternehmer Groß zwei Waschmittel hinzu: »Rei« und »Sanso«. »Rei aus der Tube« kommt nun aus Hirschfelde und hat keine Probleme auf dem Markt im Westen. Die Spülmittelhersteller wissen, dass es sie nicht mehr gäbe, wenn sie bei der Privatisierung nicht zufällig an einer Unternehmer geraten wären, der den Betrieb erhalten wollte. Sie haben Glück gehabt, wie andere, die abgewickelt wurden, Pech. In Regionen wie der von Zittau ist es schwer, den Menschen Mut zu machen. Einer, dem das offensichtlich noch gelingt, ist Heinz Eggert. einst Pfarrer von Oybin, später Landrat von Zittau und zeitweilig sächsischer Innenminister. Zwei von drei Wählern gaben ihm auch bei den Landtagswahlen von 1999 ihre Stimme. Nach all den Erfahrungen in und mit der Bundesrepublik könnte man das so deuten: einen letzten Reichtum hat Zittau noch: Gottvertrauen.
Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal