»Abkehr von der Billig-Strategie«

Azubi-Mangel: Im Osten werden die Bewerberzahlen bald um bis zu zwei Drittel einbrechen

  • Lesedauer: 3 Min.
Mehr Vergütung und mehr Förderung für Auszubildende: Wirtschaft und Gesellschaft werden bald auf den »Wende-Knick« reagieren müssen. In Mecklenburg-Vorpommern haben Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften jetzt eine Strategie verabschiedet, die dem Rechnung tragen soll. Mit DGB-Nord-Vize Ingo Schlüter sprach darüber ND-Mitarbeiter Velten Schäfer.
»Abkehr von der Billig-Strategie«

ND: Ausbildungspolitiker aller Couleur starren auf den großen Geburtenknick. Wann erreicht er den Nordosten, wie gravierend wird er ausfallen – und welche Konsequenzen wird er haben?
Schlüter: Wir müssen damit rechnen, dass wir gegenüber den Spitzenjahren der Neunziger schon in zwei Jahren nur noch bis zu einem Drittel der Bewerber haben. Die Unternehmen müssen sich bewegen. Ihre Anspruchshaltung an Bewerber ist manchmal überzogen gewesen.

Die Landesregierung von MV, Unternehmerverbände, DGB und Kammern haben gerade ein »Bündnis für Ausbildung und Qualifizierung 2008-2013« unterzeichnet. Eine wichtige Rolle soll ein »attraktives Gehaltsniveau« spielen. Was heißt das konkret?
Endlich werden Auszubildende in außerbetrieblichen Programmen eine höhere Ausbildungsbeihilfe erhalten. Im ersten Lehrjahr wird sie von 190 auf 220 Euro steigen; im vierten Jahr von 265 auf 295 Euro. Auch bei betrieblichen Ausbildungen werden die Vergütungen bei anstehenden Tarifverhandlungen angehoben werden. Inzwischen sieht selbst der Hotel- und Gaststättenverband DEHOGA ein, dass bei den Azubi-Vergütungen etwas getan werden muss, wenn man guten Nachwuchs will. Auch andere Arbeitgeber mussten das anerkennen.

Das klingt nach Abkehr von der Billig-Strategie. Aber Lothar Wilken von der Vereinigung der Arbeitgeberverbände hat erst kürzlich erneut geringe Lohnkosten als Standortvorteil gerühmt.
Es klingt nicht nur so. Wir haben vereinbart, dass EU-Mittel nicht mehr für die Förderung von Billigjobs um jeden Preis eingesetzt werden. Die Arbeitgeber haben zudem Entgegenkommen den Auszubildenden gegenüber zugesagt, was etwa Übernahme-Zusagen angeht. Entscheidend aber ist, dass wir mit dem Bündnispapier endlich wegkommen von dieser Angstmacher-Debatte und von den Schuldzuweisungen gegenüber den Jugendlichen. Man sieht das daran, das die Kategorie der vermeintlich »Ausbildungsunwilligen« aus dem Papier getilgt wurde. Inwieweit Herr Wilken das schon verinnerlicht hat, müssen Sie ihn fragen.

Auf Bundesebene hat sich der DGB vom »Nationalen Ausbildungspakt« stets ferngehalten. Was lohnt sich auf Landesebene an einer solchen Kooperation?
Der bundesweite »Ausbildungspakt« bleibt eine Folkloreveranstaltung, die den Bedarf an betrieblichen Ausbildungsplätzen nicht decken kann. Deshalb bleibt für den DGB Nord die Forderung nach einer Ausbildungsumlage hoch aktuell. In Mecklenburg-Vorpommern bilden weniger als 20 Prozent der befähigten Betriebe aus. Auf Landesebene müssen wir aber trotzdem mitgestalten; allein schon bei der Steuerung der Strukturprogramme. Seit 1992 sind dafür im Land über drei Milliarden Euro geflossen. Wir haben jetzt dafür gesorgt, dass diese Mittel künftig in bessere Qualität fließen sollen. Das konnten wir nur aus einer aktiven Rolle leisten.

In letzter Zeit war oft zu lesen, dass sich das Ausbildungsproblem schon erledigt habe. Der Bildungssprecher der CDU-Landtagsfraktion hat kürzlich gesagt, schon dieses Jahr werde der Ausbildungsmarkt ausgeglichen sein. Ist es wirklich schon so weit?
Die Fachleute gehen davon aus, dass wir in diesem Jahr rund 18 000 Bewerber haben und 11 500 betriebliche Plätze. Es besteht weiter Handlungsbedarf. Anderslautende »Analysen« kann ich nicht nachvollziehen. Aber Statistiken können bekanntlich immer sehr subjektiv ausgelegt werden. Bildungsminister Henry Tesch (CDU) etwa zählt berufsvorbereitende Maßnahmen als Ausbildungsangebote mit – dabei richten sich die explizit an Jugendliche, die aus verschiedenen Gründen nach den Kriterien der Arbeitsagentur nicht als Bewerber anerkannt werden. Das ist unseriös.

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