Tricastin ist kein Einzelfall

Frühere Atomunfälle wurden in Frankreich vertuscht

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Unfall in der südfranzösischen Atomanlage Tricastin, bei dem radioaktive Flüssigkeit in die Umgebung gelangte, war möglicherweise nur die Spitze eines Eisberges.

Auf dem Gelände des Atomkraftwerks Tricastin war in einem Aufbereitungswerk der Gruppe Areva am 8. Juli eine Wanne mit uranhaltiger Waschflüssigkeit übergelaufen. Da auch das vorgeschriebene Rückhaltebecken defekt war, gelangten rund 20 Kubikmeter einer leicht radioaktiven Flüssigkeit, in der 240 Kilogramm Uran gelöst waren, in Gewässer der Umgebung. Das für drei umliegende Gemeinden erlassene Verbot, in den Gewässern zu baden sowie Wasser aus örtlichen Brunnen zu trinken, zum Waschen oder zum Bewässern von Feldern zu benutzen, ist bis heute nicht aufgehoben.

Bei Untersuchungen wurde im Grundwasser ein erhöhter Uranwert festgestellt, der nicht allein auf das jetzt ausgelaufene, teilweise versickerte Wasser zurückgeführt werden kann. Der Direktor des staatlichen Instituts für Strahlenschutz und Atomsicherheit, Jean-Christophe Gariel, vermutet »frühere und nicht publik gewordene Zwischenfälle« als Ursache.

Umweltverbände lenken die Aufmerksamkeit auf eine nahe gelegene Müllhalde. Hier hatte eine Areva-Filiale von 1964 bis 1996 hoch radioaktives Spaltmaterial für militärische Zwecke aufbereitet und die Rückstände nie vorschriftsmäßig eingelagert oder gesichert. Der Dachverband der französischen Atomkraftgegner, »Sortir du nucléaire«, fordert in einem Schreiben an Umweltminister Jean-Louis Borloo, in der Nähe aller Atomkraftwerke und Aufbereitungsanlagen Boden- und Wasserproben zu untersuchen. Der Verband geht davon aus, dass frühere Störfälle und Unglücke verheimlicht wurden, um nicht den allgemein guten Ruf der Atomenergie in Frankreich zu beschädigen.

Die staatliche Atomsicherheitsagentur ASN hat unterdessen die Schließung der veralteten Anlage verfügt, wo die Flüssigkeit ausgetreten ist und die zur Reinigung von verstrahltem Material bestimmt war. Die Behörde räumte dabei ein, dass die ergriffenen Sicherheitsmaßnahmen bei dem Zwischenfall »nicht ganz zufriedenstellend« waren. Das ist zumindest tiefgestapelt. Zu denken gibt, dass selbst Umweltminister Borloo von »ernsten Fehlern« gesprochen und disziplinarische oder sogar strafrechtliche Konsequenzen für Verantwortliche der betroffenen Firma Socatri, einer Tochter des staatlichen Atomtechnik-Konzerns Areva, angekündigt hat. Von Medien, Umweltverbänden und Kommunalpolitikern der Region wurde zudem die Art scharf kritisiert, wie über den Unfall informiert worden ist. Er trug sich kurz nach Mitternacht zu, doch obwohl die Behörden schon in den frühen Morgenstunden voll im Bilde waren, wurden die Bürgermeister der Gemeinden rund um die Anlage erst gegen Mittag vorgewarnt und die Bevölkerung erfuhr erst am späten Nachmittag durch Lautsprecherwagen von dem »Wasser-Verbot«. »Bis dahin können viele Menschen schon von dem uranhaltigen Wasser getrunken und sich dadurch unabsehbare Spätschäden für ihre Gesundheit zugezogen haben«, sagt ein Sprecher von »Sortir du nucléaire«. Seiner Meinung nach hat sich seit dem Reaktorunglück von Tschernobyl 1986, als die Behörden der Bevölkerung weiszumachen versuchten, dass die radioaktiven Wolken an Frankreich vorbeizögen, in der Informationspolitik kaum etwas verbessert hat.

Luc, der Wirt einer Gartenwirtschaft nahe der laut dem Betreiber EDF größten Atomanlage der Welt, kennt viele der rund 6000 Angestellten. »Sie erklären uns im Brustton der Überzeugung, dass der Unfall banal war und keine Gefahr für das Grundwasser besteht. Aber selber trinken sie nur Mineralwasser aus der Flasche.«

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