Leere als Chance

Der Film »Neuland« von D. Kunle und H. Lauinger

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Das mechanische Auge der Kamera gleitet über weite, menschenleere Landschaften. Es tastet die Mauern von Wohnhäusern, Industrieanlagen und Bahnhöfen ab, die längst verlassen sind. Fenster und Türen dieser Gebäude sind verbarrikadiert oder zerstört. Vergleicht man diese Fassaden mit einem Gesicht, so wirken sie verwüstet, blind und entstellt.

Die Kamera des Films »Neuland« von Daniel Kunle und Holger Lauinger fährt über ostdeutsche Landschaften. Die gelten heutigen Stadtsoziologen als »leerer Raum«. Meterware an Publikationen und Ausstellungen zur »Schrumpfung der Städte« sind entstanden. Das Thema ist zu Recht en vogue. Denn viele der alten Industrieareale sind aufgegeben worden. Immer mehr Menschen ziehen der Lohnarbeit hinterher. Die Siedlungsgebiete, die von ihnen nicht mehr gebraucht werden, sind verödet oder befinden sich in der Phase des »Rückbaus«.

Die These vom »leeren Raum« ist trotz ihrer faktischen Berechtigung auch erschütternd und empörend. Sie macht diejenigen, die ihn noch bewohnen, zu handlungsunfähigen Objekten, die ohnmächtig einem zwangsläufigen Prozess ausgesetzt sind; in letzter Konsequenz negiert der »leere Raum« sogar ihre Existenz.

Der Film »Neuland« unternimmt zunächst eine Bestandsaufnahme. Den Bildern von Leere und gelegentlicher Rückeroberung der Flächen durch die Natur fügen die Autoren Gespräche mit Protagonisten hinzu. Jugendliche aus Bitterfeld beklagen ihre Chancenlosigkeit. Ein Bürgermeister aus dem Oderbruch sieht sein Dorf hinwegschmelzen. Die Betreiberin des letzten Kinos in der einstigen Zelluloid-Stadt Wolfen erlebt die Bevölkerung als unfähig, sich überhaupt noch versammeln zu wollen, und sieht sich daher gezwungen, diese Kulturbastion schließen.

Der Stadtplaner Stefan Paulisch macht den Prozess dieser Ausdünnung anschaulich. In einem dreidimensionalen Stadtmodell löscht er die Gebäude und Viertel, die am Stadtrand liegen. Die nicht mehr gebrauchte Innenstadtbebauung macht er transparent; an Orientierungspunkten bleibt jetzt nur noch die Kirche, und das Auge kann weit bis zur Stadtmauer schweifen.

»Neuland« ist aber ebenfalls – und dies macht den stärkeren, diskussionswürdigeren Teil des Films aus – ein Plädoyer für die eigene Aktivität. Er stellt Menschen vor, die die Leere auch als Chance begreifen. Die jungen Betriebswirte Danny Hübner und Daniel Weller gründen im Vogtland eine Schneckenzucht. Der aus Kanada heimgekehrte Bisonzüchter Falk Selka erobert mit dem Fleisch dieser urigen Tiere die Karten der sächsischen Restaurants. Bürgermeister Horst Wilke reaktiviert den alten Kolonistenaufruf Friedrich II. zur Besiedlung des Oderbruchs. Michael Maurer, Arbeitsloser in Jüterbog, bedruckt T-Shirts mit der Aufschrift »Die Überflüssigen« und protestiert so gegen die ökonomische Aussortierung von Menschen.

Der Film »Neuland« gibt der Aktivität in der Leere ein Gesicht. Die Autoren Kunle und Lauinger beschränken sich nicht aufs Drehen und Schneiden, sondern suchen mit dem fertig gestellten Produkt Orte auf, die denen ähneln, die sie beschreiben. Darüberhinaus stößt »Neuland« auch in Berlin und »Altland« immer mehr auf Interesse.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal