Kasseler Modell fordert Opfer

Pauschalierung von Sozialhilfe führt zu Wohnungskündigungen

  • Marcus Schwarzbach
  • Lesedauer: ca. 2.0 Min.

Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) versucht sein Image als sozialpolitischer Hardliner spätestens seit seinem Bekenntnis zum Arbeitszwang-Modell des US-Bundesstaats Wisconsin zu polieren. Nun auch ganz praktisch.

Auf den ersten Blick erscheint es ungewöhnlich: Drei Wohnungsbaugesellschaften in Kassel haben auf die Situation von Sozialhilfeempfängern hingewiesen und ein Warnsignal an die Stadtverwaltung gerichtet. Grund ist die Pauschalierung der Sozialhilfe. Leistungen für Kleider oder Möbel, die bisher im Einzelfall beantragt werden müssen, werden nun monatlich als Pauschale ausgezahlt. Miete und Nebenkosten fallen ebenfalls unter diese Regelung.

Zwölf Jahre sparen fürs Renovieren?
Als erste Stadt Hessens, die diesen neuen Ansatz testet, wurde Kassel ausgewählt. Fast jeder Zehnte der 190000 Einwohner Kassels lebt von Sozialhilfe. Die nordhessische Stadt wird von einer großen Koalition aus SPD und CDU unter dem Unions-Bürgermeister Lewandowski regiert. Auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund begrüßt diese Modellprojekte, die bundesweit in Städten begonnen wurden. Sozialdezernentin Ilona Caroli (SPD) betonte bei Einführung der Pauschalierung, es gehe um Abbau von Bürokratie. Es könne nicht die wichtigste Aufgabe des Sozialamtes sein, Anträge zu bearbeiten.
Für Mietexperten war jedoch bereits im Vorfeld absehbar, dass die Pauschalierung Kürzungen beinhaltet. Die Mietpauschalen setzen eine bestimmte Wohnungsgröße voraus. Beispielsweise sind 40 Quadratmeter für einen Ein-Personen-Haushalten vorgesehen. Auch werden die Nebenkosten deutlich zu niedrig angesetzt. Zwölf Jahre müssen Sozialhilfeempfänger nach den Vorgaben der Pauschale sparen, um Renovierungen bezahlen zu können. In den meisten Mietverträgen sind jedoch Schönheitsreparaturen bereits nach fünf Jahre vorgeschrieben. In der Pauschale ist darüber hinaus nicht berücksichtigt, dass die meisten Vermieter eine Mietkaution verlangen. Kritiker forderten die Schaffung existenzsichernder Arbeitsplätze statt Maßnahmen zur Kürzung von Sozialhilfe. Die große Koalition sah aber über die Bedenken hinweg und führte die Pauschalierung ein.
Nach einem halben Jahr zeitigte der Modellversuch erste Ergebnisse. Drei Wohnungsbaugesellschaften informierten die Öffentlichkeit über Kündigungen, die sie ihren Mietern gegenüber wegen Miet- und Nebenkostenrückständen aussprechen. Viele Sozialhilfeempfänger sind durch die Neuregelung nicht mehr in der Lage, die Miete zu bezahlen.

Rücklagen zu bilden ist kaum möglich
Aus Sicht von Irene Anacker, sozialpolitische Sprecherin der oppositionellen Grünen-Fraktion im Rathaus, machen die Aussagen der Wohnungsbaugesellschaften überdeutlich, dass »mit dem in der Pauschalierung vorgesehenen Kostenniveau fürs Wohnen viele Sozialhilfebezieher nicht zurechtkommen können, weil die Mieten dieses nicht hergeben«. Sie sieht »große Probleme« auf die Sozialhilfebezieher zukommen, wenn erst einmal die Nebenkostenabrechnung für 2001 auf dem Tisch liegt. Für viele Haushalte sei es unmöglich, aus den gering bemessenen Beträgen Rücklagen für die Heizperiode zu bilden. »Die Pauschalierung muss im Bereich der Wohnungskosten zurückgenommen und die Schulbeihilfen müssen dringend erhöht werden«, so Anacker. Die Stadtverwaltung hat zwar Gespräche über Lösungen für Einzelfälle vorgeschlagen. Das Modellp...

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