»Sollen wie Tiere behandelt werden…«

Deutsche Kohlebarone beuteten Hunderttausende sowjetische Kriegsgefangene als Arbeitssklaven aus

  • Hans Canjé
  • Lesedauer: 4 Min.
Tafel in Stukenbrock
Tafel in Stukenbrock

Das sind die wenigen erhalten gebliebenen Daten aus dem Leben des Alexander Filpowitsch Smirnow: Geboren am 16. August 1912 in Kubyschew an der Wolga; am 18. Juli 1942 als einfacher Soldat bei der Artillerie der Roten Armee bei Krasnowk in die Hände der faschistischen Okkupanten gefallen; nach Zwangsarbeit für die Wehrmacht Anfang September 1943 zur Zwangsarbeit im Ruhrkohlenbergbau in das Kriegsgefangenenlager Stukenbrock-Senne (Stalag 326 VI K) nahe Paderborn deportiert, dort als Gefangener 133 080 registriert; am 20. September von der ärztlichen Untersuchungskommission als »einsatzfähig für schwere Arbeit (Stufe 1)« eingestuft; am 28. September Verlegung nach Bochum-Wiemelshausen zur Zeche »Prinzregent« in das »Russenkommando 701 R«; am 5. Februar 1944 Einweisung in das Lazarett Wanne-Eickel – Diagnose: Lungentuberkulose; am 9. März 1944 nach erfolgloser Behandlung Überweisung in das Lazarett Staumühle in der Senne, nahe dem Ort, an dem sechs Monate zuvor sein »Deutschlandaufenthalt« begonnen hatte. Hier endete das kurze Leben des Alexander Filipowitsch Smirnow am 1. April 1944.

Am 3. April erfolgte seine Beisetzung auf dem »Kgf. Friedhof Forellkrug Senne«. Die peniblen Buchhalter des Todes notierten präzise die Grablage: »Reihe 29, Grab Nr. 1372, Liste 13 116«. Das heißt: Alexander war der Tote Nummer 13 116, der seit dem Sommer 1941 auf dem »Russenfriedhof« beerdigt wurde.

Als US-amerikanische Truppen am 2. April 1945 das Lager befreiten, trafen sie nur noch 8610 Überlebende an, 8500 Russen und 110 Franzosen. Sie standen auf dem größten sowjetischen Soldaten-Friedhof Deutschlands. In 36 Massengräbern von je 110 Meter Länge lagen an die 65 000 an den Folgen von Hunger, Krankheiten oder Fronarbeit vornehmlich im Bergbau umgekommene sowjetische Gefangene. »Dies ist ein Ort, an dem man sich erinnern muss, wenn der Nazismus einmal zur Rechenschaft gezogen wird«, schrieb der Reporter John M. Mecklin am 6. April 1945. »Das Lager war bis an seine Grenzen ausgelastet ... Fast 400 Russen sind an Seuchen, nicht verheilten Wunden oder Unterernährung erkrankt. Hunderte von ihnen werden in den nächsten Tagen sterben, wenn sie nicht sofort Nahrung und medizinische Versorgung erhalten. Das meinen die Nazis, wenn sie sagen: ›Bolschewisten sind Tiere und sollen wie Tiere behandelt werden‹.«

Exakt in diesem Sinne war am 10. Juli 1941, an dem Tag, als die ersten beiden Gefangenentransporte mit je 4000 Mann in der Senne eintrafen, im »Westfälischen Volksblatt« zu lesen: »Beim Anblick dieser menschlichen Unnaturen drängt sich einem mit Gewalt der Gedanke auf, dass es in der Tat höchst an der Zeit war, den Bolschewismus, diese Rückschrittserscheinung der Menschheit, mit Stumpf und Stiel auszutilgen.«

»Aktion Steiger« war das Codewort für die Aktion, in deren Verlauf Alexander Smirnow vor 65 Jahren als Sklavenarbeiter in Richtung Ruhrrevier deportiert worden war. Am 7. Juli 1943 hatte die »Reichsvereinigung Kohle« (RVK) als Interessenvertretung des Kohlebergbaus angesichts der vielen Einberufungen von Hitler die Zuführung von mindestens 200 000 sowjetischen Gefangenen gefordert und zugebilligt bekommen. Sie wurden in das Stalag 236 (VI K) Senne transportiert. Das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) hatte das Lager ein Jahr zuvor bereits auf Drängen der RVK zum Aufnahme- und Musterungslager für den Ruhrkohlebergbau bestimmt. Der direkte Einsatz der »Bergleute« erfolgte dann nach Wunsch der RVK über das ebenfalls auf OKW-Befehl im November 1942 eingerichtete »Sondermannschaftslager für den Bergbau« VI/A Hemer. Die RVK erwarte von dieser Zusammenfassung aller im Ruhrbergbau eingesetzten Kriegsgefangenen in einem Lager »eine Beschleunigung des Arbeitseinsatzes und somit eine Steigerung der Kohleförderung«, hieß es dazu im entsprechenden Befehl des Wehrkreiskommandos VI vom 7. November 1942. Die Rechnung ging auch auf.

Im August 1944 war die Zahl der im Bergbau tätigen sowjetischen Gefangenen auf 159 898 gestiegen. Die Kohleförderung stieg und damit auch der Profit. Hatte die RVK doch fast zeitgleich mit den Anforderungen nach mehr Gefangenen auch eine Herabsetzung der Abführung pro Arbeitskraft an den Staat erreicht. Sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Bergbau – insgesamt waren es fast 300 000 – waren fortan bei härtester Arbeit und niedrigsten Verpflegungssätzen die billigsten Arbeitskräfte.

Überlebende des Lagers Stukenbrock gestalteten nach der Befreiung einen würdigen Friedhof für ihre hier begrabenen 65 000 Kameraden. In den Nachkriegsjahren verfielen die Gräber wie die öffentliche Erinnerung an die 3,5 Millionen in deutscher Kriegsgefangenschaft ums Leben gekommenen sowjetischen Soldaten – die nächst den europäischen Juden größte Opfergruppe des deutschen Faschismus.

»Der Antibolschewismus der Nationalsozialisten«, beschreibt eine Schrift des Landschaftsverbandes Lippe die damalige Situation, ging »relativ nahtlos in den Antikommunismus des Kalten Krieges über«. Damit wurden auch jene zu Objekten staatlicher Überwachung und Diskriminierung (»fünfte Kolonne Moskaus«), die sich trotz alledem über die Jahre hinweg mit der Aktion »Blumen für Stuken-brock« und der alljährlichen Mahn- und Gedenkveranstaltung Anfang September am sowjetischen Soldatenfriedhof Stukenbrock einfanden.

Vertreter der einstigen Reichsvereinigung Kohle haben dort übrigens noch nie einen Kranz für ihre Opfer niedergelegt.

Am heutigen Sonnabend, 15 Uhr, wird der Opfer auf dem Mahn- und Gedenkfriedhof in Stukenbrock gedacht; die diesjährige Gedenkansprache hält Oberstleutnant Jürgen Rose, Vorstandsmitglied der kritischen Soldatenvereinigung vom Darmstädter Signal und bekannt geworden durch seine kritische Haltung zum Tornado-Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan.

Sowjetische Sklavenarbeiter
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