Gemeinschaft unter Piratenflagge

Kreuzberg Museum zeigt eine Ausstellung über das Leben in den Wagenburgen

  • Anouk Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.
Berliner »Rollheimer« aus der Vogelperspektive
Berliner »Rollheimer« aus der Vogelperspektive

Das Feindbild ist klar. Es lauert in Form eines schwarz glänzenden Pappmaché-Polizisten auf dem Treppenabsatz. Einen Meter weiter präsentiert sich die Gegenwelt: eine Collage aus Kunst- und Alltagsgegenständen und Fotos von Bauwagen. Denn um diese halbnomadische Wohnform geht es in der Ausstellung »Wagenburg leben in Berlin« im Kreuzberg Museum.

Die Schau, die das Museum zusammen mit der Gesellschaft für interregionalen Kulturaustausch X-Dorf initiiert hat, gibt einen guten Einblick in den alternativen Lebensstil der »Rollheimer«, inklusive ihrer Hoffnungen und Träume. Kurator Dr. Ralf Marsault, Fotograf, Ethnologe und selbst Wagenburg-Bewohner, hat sich der Authentizität wegen sämtliche Exponate von seinen Protagonisten geliehen und auch bei der Gestaltung hatten diese Mitspracherecht. So herrscht im obersten Stockwerk des Kreuzberg Museums ein fröhliches, unübersichtliches Chaos aus Kunst und Dokumentation, Fotowänden und Vitrinen, aufgeteilt nach verschiedenen Wagenplätzen.

Eine kleine Bank und gestapelte Autoreifen laden zum Sitzen und Diskutieren ein. Auch einen echten Bauwagen gibt es, ausgestattet mit Bett und Stuhl, Regal und einem kleinen Ofen. Klein und eng ist dieses mobile Heim zwar, doch gemütlich.

Hinter dem Eingang duckt sich der Besucher unter einer riesigen Monsterskulptur hindurch, die im Stil der Tacheles-Kunst aus Stangen und Schrott zusammengeschweißt wurde. Das Recyceln von ausrangierten Alltagsgegenständen sowie die Verwendung von Holz und Metall spielt bei den Wagenburg-Künstlern durchweg eine große Rolle. Auch die Ästhetik ähnelt sich – in der Kleidung, die von schwarz und Leder geprägt ist, in den Dreadlock- oder Punkfrisuren, und eben in der Kunst. Hier gibt es zum einen den Hang zu archaischer Natur- und Indianermystik. Mittels ornamentaler Schnitzereien werden aus simplen Baseballschlägern oder Messergriffen kunstvolle Objekte, Fotos hängen an einer aus Ästen gebauten Hütte, und die Tätowierungen vieler Wagenburg-Bewohner erinnern an die polynesischer Inselstämme.

Zum zweiten steht die düstere, von Chrom und Metall geprägte »Cyberpunk«-Subkultur hoch im Kurs. Große Metallinsekten mit roten Leuchtdioden-Augen funkeln den Besucher an. Ein beliebtes Motiv ist auch die Piratenflagge, wohl weil sie für eine stolze Gemeinschaft Verschworener steht, die außerhalb der Gesellschaft nach eigenen Regeln und Gesetzen lebt.

Wer sich die Interviews an den im Raum verteilten Bildschirm-Stationen anhört, ahnt, warum Menschen das Leben im Bauwagen dem Komfort einer Wohnung vorziehen: die Freiheit, tun und lassen zu können, was man will, der Verzicht auf bürgerliche Organisation sowie das Gefühl der Gemeinschaft sind Hauptgründe für den Alltag auf Rädern.

Dem gegenüber stehen die Vorurteile der »Sesshaften«, ebenfalls in kurzen Interviews dokumentiert: Ein »bisschen asozial« sei diese Wohnform schon, meint ein Nachbar. »Es gibt nicht zwei Wagenburgen, in denen das Leben in derselben Art und Weise funktioniert«, so Kurator Marsault. Gleich ist einigen Standorten allerdings die Unsicherheit, wie lange sie noch bestehen werden – neue Bauprojekte und Konflikte mit Nachbarn bedrohen immer wieder die 17 verbliebenen Standorte, die auch auf einem Übersichtsplan dargestellt sind.

Bis 16. November., Mi.-So. 12-18 Uhr; Kreuzberg Museum, Adalbertstr. 95 A, Kreuzberg

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