Aufstand der Hohlkörper

Schokoladenweihnachtsmänner ab Ende August – es reicht!

  • Matthias Kröner
  • Lesedauer: 5 Min.
Aufstand der Hohlkörper

I ch weiß nicht, ob es am Weizenbier lag – es war schon das vierte in dieser Nacht – oder einfach an der vorgerückten Stunde, in der sich die Dinge von selbst entwickeln. Jedenfalls setzte er sich neben mich an den Tresen. Er war in voller Montur erschienen, mit langem Rauschebart und diesem roten Mantel, wie man ihn aus den Weihnachtsfilmen im Kino kennt.

Er rief nach dem Kellner und bestellte gebratenes Rentier. »Wissen Sie«, sprach er mit sonorer Stimme in meine Richtung, »was das Schlimmste im Leben ist?«

Ich nippte an meinem Bier, doch ich sagte nichts. »Wenn sich alles jedes Jahr wiederholt. Im August stehen wir in den Regalen der Supermärkte. Wenn die Kinder im Freibad spielen, schwitzen wir uns in der Aluminiumverpackung zu Tode. Wir haben in dieser Jahreszeit nichts verloren! Ja, wenn wir im November erscheinen würden, doch Ende August ...«

Er nahm einen Schluck vom Grog. Der behäbige große Mann wirkte gutmütig, ich hatte nicht die geringste Angst, fragte nach einer Zigarette und ließ ihn reden.

»Jedes Jahr animiere ich meine Kollegen zum Ausbruch. Und dieses Mal wird es klappen. Wir brauchen Strickleitern. Strickleitern und einen guten Glasschneider. Wir fliehen«, sagte er und trank den heißen, dampfenden Rum in einem einzigen Zug hinunter. »Etwas Besseres als den Hitzetod finden wir überall.«

»Den Osterhasen geht es nicht anders«, fing er nach einer kurzen Pause wieder zu lamentieren an. »Nur umgekehrt: Die frieren, wenn sie in die Regale kommen. Ich frage mich immer wieder, wer uns zu diesen unmöglichen Zeiten eigentlich einkauft ... Wer ist so wahnsinnig und beißt im Hochsommer in einen Weihnachtsmann? Wer denkt im Februar schon ans Nestersuchen?« Ich nickte, doch hielt mich erneut zurück. Wie so oft, war ich chronisch pleite und verging mich nur selten an Hohlkörpern aus Schokolade. Mein Boykott war ein stiller, ein erzwungener Boykott, der sich in erster Linie über die Käufer wunderte. Irgendwer, dachte ich, muss dieses Zeug ja mitnehmen. Ich sympathisierte mit den Dominosteinverächtern, den Spekulatiushassern, die die Kraft besaßen, bis zum Ersten Advent zu warten.

»Dieses Jahr«, führte der Weihnachtsmann seine Rede fort, »marschieren wir nach Berlin. Wir stellen uns vors Bundeskanzleramt – und wir singen: Weihnachtslieder! Millionen von uns werden die Melodien trällern. Ende August singen wir Stille Nacht. Jeden Tag von acht Uhr bis achtzehn Uhr. O du Fröhliche werden wir intonieren. Ihr Kinderlein kommet, Zu Bethlehem geboren. Wir werden in zahlreichen Legionen aufmarschieren, jede halbe Stunde wird durchgewechselt. Wir«, er schlug sich mit der Faust auf die hohle Brust: »Wir gehen Gandhis Weg!«

In diesem Augenblick schwang die Türe auf. Erst dachte ich, dass es soweit ist: weiße Mäuse, Delirium tremens. Dann sah ich das Weiße hoppeln. Der Hase setzte sich neben uns an die Theke. »Der Deal geht klar«, sagte er zu dem Mann in Rot, während seine Ohren wie Antennen nach oben fuhren. »Gruppe Nord, Nordost und Südwest sind einverstanden. Ab nächste Woche können wir alle Eier abholen.« Beide kicherten und sahen sich konspirativ in die Augen. »Wir werden sie mit den Dingern zuballern. Die sollen drauf ausrutschen. Alles«, sagte er, während er mit einem Karottensaft on the rocks auf das Gelingen des ungewöhnlichen Planes anstieß, »soll in Eidotter untergehen. Das Kanzleramt wird eine einzige gallertartige Blase, bis sie auf unsere Wünsche hören und endlich das Hohlkörpergesetz verabschieden: ›Wer Weihnachtsmänner und Osterhasen verärgert oder nachgemachte Weihnachtsmänner und Osterhasen länger als einen Monat vor einem Kirchenfest in Verkehr bringt, wird mit Freiheitsstrafen nicht unter fünf Weihnachtsmärkten bestraft.‹«

Der Mann im Mantel strich sich sorgfältig über den weißen Bart. Als er die widerborstigen Haare geordnet hatte, blickte er unerwartet in meine Richtung. »Haben Sie eine Meinung in dieser Sache?« Auf diese Anrede war ich nicht gefasst. Vorsichtig sagte ich, was ich dachte. »Um die Kinder tut es mir leid. Wenn ihr wirklich die ganzen Aktionen durchzieht, wird niemand mehr feiern wollen. Dann ist die besinnliche Atmosphäre vergiftet.«

Ich wollte nicht zu moralisch sein, doch die Worte purzelten einfach aus mir heraus. Der Weihnachtsmann stützte den schweren Kopf in seine beiden Hände. Für Minuten sah es so aus, als würde er die einzelnen Argumente abwägen.

»Dieses Fest«, sagte er schließlich, »ist das Fest der Kinder. Die können wir nicht enttäuschen.« Damit erhob er sich, legte ein paar Dukaten aus echtem Gold auf den Tresen und verschwand unter dem Halleluja der Engel im Schwarz der Nacht.

Der Hase seufzte und bestellte erneut Karottensaft, jetzt einen doppelten. »So ist es immer«, sagte er resignierend. »Jedes verdammte Jahr! Irgendwann fragt er einen Fremden, der nichts mit der ganzen Sache zu schaffen hat – und bringt uns von unseren Plänen ab.«

Noch lange saß ich mit dem Osterhasen am Tresen. Schließlich legte er seine Ohren zurück und reichte mir zum Abschied die Pfote.

»Nächstes Jahr«, sagte er und zog die Mundwinkel zu einem feinen Lächeln. »Wenn wir nächstes Jahr wieder ab Anfang Februar in den Läden stehen, ziehen wir die Sache eben alleine durch!«

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal