Flaggenwechsel am Stephansdom

Die Wiener Oktoberrevolution 1848 stürzte die Habsburger Monarchie in ihre tiefste Krise

  • Walter Schmidt
  • Lesedauer: 4 Min.

In den Mittagsstunden des 6. Oktober 1848 begann die große Glocke des Wiener Stephansdoms Sturm zu läuten. In der Kaiserstadt war Ungewöhnliches geschehen. Das revolutionär-aktive Wien, Arbeiter, Handwerker und Studenten, hatte sich erhoben, Schienen waren aufgerissen, Bahnbrücken zerstört, Barrikaden errichtet worden. Ziel der Aktionen war, die auf kaiserlichen Befehl gegen die ungarische Revolution in Marsch gesetzten Truppen am Verlassen von Wien zu hindern. Das gelang, und mehr noch. Die Grenadiere verbündeten sich mit dem Volk, kaisertreue Militäreinheiten und Bürgergarden wurden in die Flucht geschlagen. Der Hof floh daraufhin nach Olmütz. Die Revolutionäre hatten fortan das Sagen in der Stadt. Die Habsburger Monarchie erlebte ihre tiefste Krise.

Erstmals in der Revolution übten Demokraten für mehr als drei Wochen die Macht in einer deutschen Stadt aus. Hinter der revolutionären Solidaritätsaktion für Ungarn stand mehr. Es bahnte sich eine Entscheidungsschlacht zwischen Revolution und Konterrevolution von europäischer Bedeutung an. Das revolutionäre Wien hatte nach dem Sturz des Metternichsystems am 13. März durch einen weiteren Vorstoß am 15. und 25. Mai der Reaktion zwar demokratische Rechte und Freiheiten, Wahlen zu einem Reichstag und eine Verfassungsversprechen abgerungen. Doch die Konterrevolution verfügte über die Armee, konnte durch Niederwerfung der national-revolutionären Bewegungen in Prag und in Norditalien im Sommer 1848 ihre Macht wieder konsolidieren und im Herbst zum Angriff nicht allein gegen Ungarn übergehen. Die Revolution sollte überall im Habsburgerreiche niedergeschlagen werden.

Diese Attacke abzuwehren und die demokratische Revolution zu sichern und weiterzuführen war der Kern des soeben ausgebrochenen Wiener Oktoberaufstands. Und es wusste jeder nicht nur in Wien, sondern auch in Frankfurt und anderswo in Deutschland, dass sich mit dem Kampf in Wien das Schicksal der europäischen Revolution entscheiden würde.

Die Wiener Demokratie hatte bei der Verteidigung der Stadt einen schweren Stand. Außerhalb Wiens zog Alfred Ferdinand Fürst zu Windischgrätz, der Schlächter von Prag, als Oberbefehlshaber alle verfügbaren militärischen Kräfte zusammen und leitete am 16. Oktober die Umzingelung der Stadt ein. Die ungarischen Revolutionstruppen, auf die die Wiener alle Hoffnung setzten, zögerten mit dem Einsatz zur Befreiung Wiens, sie warteten auf einen entsprechenden Beschluss des dazu nicht bereiten Reichstags. Und als sie auf Befehl von Lajos Kossuth endlich doch eingriffen, war es zu spät; sie wurden am 30. Oktober bei Schwechat zurückgeschlagen.

In der Stadt stießen die Demokraten auf den hinhaltenden, auf Kompromisse mit der Konterrevolution abzielenden Widerstand der Reste des Reichstags und des Wiener Gemeinderats. Verlassen konnten sie sich nur auf Teile der Nationalgarde; uneingeschränkt zur Revolution standen die in der Mobilgarde organisierten Arbeiter und die Akademische Legion der Studenten. An der Spitze der ca. 30 000 bis 40 000 Bewaffneten stand Wenzel Cäsar Messenhauser, der jedoch den Aufgaben des Oberbefehlshabers nicht gewachsen war und überdies zum Verhandeln mit der anderen Seite neigte. Hingegen unternahm der den Wienern zur Hilfe geeilte polnische Revolutionsgeneral Jósef Bem, dem die Leitung der Verteidigung übertragen wurde, alles, um die Schwächen zu beseitigen.

Am 23. Oktober forderte Windischgrätz die bedingungslose Unterwerfung der Stadt. Sie wurde abgelehnt. Seit dem 26. Oktober tobte der Abwehrkampf der Wiener Revolutionäre gegen 60 000 anstürmende Soldaten. Jede Straße, jedes Haus, jede Barrikade wurde erbittert verteidigt. Die Arbeiter der Mobilgarde leisteten den härtesten Widerstand. Am 30. Oktober befahl Windischgrätz – wie im Juni in Prag – sogar die Beschießung der Innenstadt. Tags darauf war der letzte Widerstand gebrochen und die ganze Stadt in der Hand der kaiserlichen Armee.

Auf dem Stephansturm wehte statt der schwarz-rot-goldenen wieder die schwarz-gelbe Fahne der Habsburgermonarchie. Den nun einsetzenden konterrevolutionären Terror fielen zahlreiche Verteidiger Wiens zum Opfer. Zum Volk übergegangene Soldaten und Kommandeure der Garden wurden ohne Urteil einfach niedergemacht, demokratische Publizisten wie Alfred Julius Becher und Hermann Jellinek zum Tode verurteilt und erschossen. Dieses Schicksal teilte mit ihnen auch Robert Blum, der als Abgeordneter der Frankfurter Linken nach Wien geeilt war und sich bewaffnet an der Verteidigung Wiens beteiligt hatte. Er wurde am 9. November in der Brigittenau erschossen.

Der Sieg der österreichischen Konterrevolution wurde zu einem Wendepunkt in der deutschen und europäischen Revolution. Seitdem stand die ungarische Revolution allein gegen den Ansturm der habsburgischen Heere. Die preußische Krone fühlte sich durch den Erfolg der Ihrigen in Wien bestärkt, im eigenen Land die Konterrevolution in Marsch zu setzen: eine konterrevolutionäre Regierung einzusetzen, die Verfassunggebende Versammlung aufzulösen und eine Verfassung zu oktroyieren. Sie konnte das tun, ohne dass sich hier ernsthafter, gar bewaffneter Widerstand regte. Man blieb – zähneknirschend zwar – im Rahmen der vorgegebenen Gesetzlichkeit. In der »Neuen Rheinischen Zeitung« klagte Ferdinand Freiligrath Deutschland bitter an, Wien allein gelassen zu haben: »Der Herbst ist angebrochen, der kalte Winter naht/ O Deutschland, ein Erheben! O Deutschland, eine Tat! Die Eisenbahnen pfeifen, es zuckt der Telegraph/ Du aber bleibst gelassen, du aber bleibst im Schlaf! Beim Todeskampf der Riesin da stehst du wie ein Stein/ Alles, wozu du dich ermannst, ein kläglich Bravoschrein.«

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