Vom Leben nichts verlangt

Robert Walser in einer opulenten Bildbiografie von Bernhard Echte

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.
Robert Walser, fotografiert von Carl Seelig auf einer Wanderung 1941, eines von zahlreichen Fotos aus dem Band »Robert Walser. Sein Leben in Bildern und Texten«, den Bernhard Echte im Suhrkamp Verlag herausgegeben hat (511 S., geb., 49 ¤).
Robert Walser, fotografiert von Carl Seelig auf einer Wanderung 1941, eines von zahlreichen Fotos aus dem Band »Robert Walser. Sein Leben in Bildern und Texten«, den Bernhard Echte im Suhrkamp Verlag herausgegeben hat (511 S., geb., 49 ¤).

Das Gebäude steht heute leer. Hoch über der Tür eine Inschrift: »Haus I«. Hier ist Robert Walser ein- und ausgegangen, der Dichter, der nun Patient war und kein Dichter mehr sein wollte, der nichts mehr schrieb und alles tat, um nicht aufzufallen, ein leiser, höflicher Mensch, der mit »vorbildlichem Eifer« Tag für Tag Papiertüten klebte oder Hülsenfrüchte verlas und sonntags aufbrach zu seinen Wanderungen in die Umgebung. Das Klinikdorf mit seinen Häusern und Pavillons, von zwei Architekten aus Winterthur entworfen, liegt in malerischer Hügellandschaft über Herisau, einer kleinen Stadt nahe St. Gallen. Die Touristen, die sich hier umsehen, kommen, weil dies Walser-Gebiet ist. Sie gehen auf den Wegen, die er einst ging, seit 1986 kann man sogar auf einem Pfad spazieren, der nach ihm benannt ist und rund um Herisau führt, und es gibt auch ein hektografiertes Papier mit den wichtigsten Auskünften über Ort, Klinik und den berühmten Insassen. Hier hat Walser schließlich die letzten 23 Jahre seines Lebens verbracht, von 1933 bis 1956.

Auf einem alten Foto, nach dem Ende der Bauarbeiten 1908 entstanden, nennt sich das Areal noch Irrenanstalt. Eine Ansichtskarte von 1940 kennt den Begriff nicht mehr. Nun heißt es Heil- und Pflegeanstalt. Beide Aufnahmen finden sich im Bild- und Textband »Robert Walser«, den Bernhard Echte soeben im Suhrkamp-Verlag veröffentlicht hat. Das Buch, großformatig und schwer, ist das prachtvolle Geschenk eines Walser-begeisterten Mannes, der der Rührigste von allen ist, die sich heute für den leisen und rätselhaften Autor einsetzen. Echte leitete bis Ende 2006 das Archiv in Zürich, er gab Walser-Bände heraus, verfasste eine Biografie des jungen Walser und konzipierte vor zwei Jahren eine Ausstellung, die auch in Berlin zu sehen war. Und er hat, unfassbar noch immer, in unglaublicher Geduldsarbeit mit Werner Morlang die 526 Mikrogramme entziffert (und bei Suhrkamp in sechs Bänden ediert), die man vier Jahrzehnte lang für nicht entzifferbar hielt, dieses mikroskopisch winzige Bleistiftgekritzel, das Walsers Freund und Vormund Carl Seelig noch für eine vom Dichter erfundene Geheimschrift hielt.

Und nun diese Bildbiografie, ein Werk, das alles in den Schatten stellt, was es an ähnlichen (freilich raren) Bemühungen dieser Art vorher gab. Kein Wunder: »Ein solches Projekt«, erklärt Bernhard Echte im Vorwort, »läuft von Anfang an Gefahr, der Hochstapelei bezichtigt zu werden. Denn von allen großen Autoren der Moderne ist Walser derjenige, von dem wir am wenigsten Bilder besitzen.« Gerade mal neun Fotos zeigen ihn in seiner aktiven Zeit als Schriftsteller, zwei Kinderbilder gibt es nur, und lediglich das Dasein als Patient ist etwas besser dokumentiert.

Gut zwanzig Jahre lang hat Echte gesucht und gesammelt, was irgendwie mit Robert Walser zu tun hat, und nun breitet er das Gefundene in verblüffender Üppigkeit aus: Porträts der Vorfahren und der Eltern am Anfang, Ansichten der Stadt Biel, wo Walser 1878 geboren wurde, Geschäfts- und Todesanzeigen, ein Verzeichnis der Lehrer am Progymnasium Biel, die Schülerliste der Walser-Klasse von 1890/91, ein Zeugnis für die Jahre 1885–1893 (»Es war mir eine Genugtuung, gute Zeugnisse nach Hause zu tragen«), ein Foto des etwa Fünfzehnjährigen (»Er sieht auf diesem Bild … verhältnismäßig verschlossen, schweigsamkeitverkündend« aus«), das Zeugnis der Berner Kantonalbank in Biel vom Januar 1895, das dem Lehrling eine schöne Handschrift bescheinigt und »daß wir betreffs seines Betragens und seines Fleißes unsere volle Zufriedenheit aussprechen können«.

Es wird ein unstetes Leben. Kaum irgendwo angekommen, bricht Walser schon wieder auf. Jeder Ortswechsel ist in dem Band dokumentiert. Von Biel geht es nach Stuttgart, wo er mit Bruder Karl lebt und Schauspieler werden will, danach Zürich und Berlin, gleich darauf wieder Zürich, wo das erste Heft mit Gedichten vollendet wird, dann Thun und Solothurn, Zürich, München, Würzburg, wieder Berlin, Zürich, Berlin und so immer weiter. Allein zwischen 1921 und 1926, als Robert Walser in Bern lebt, zieht er 14 Mal um. Und jedes Mal haust er möbliert, immer in engen, dürftigen Räumen, der anspruchsloseste Poet, den man kennt, der noch das bescheidenste, bedrückendste Quartier gelassen und gutmütig erträgt.

Walsers erstes Büchlein, »Fritz Kochers Aufsätze«, »ein kokett elegantes Ding mit lustigen Zeichnungen des Bruders Karl Walser«, wie Hermann Hesse schreibt, erscheint Ende 1904. Der Insel-Verlag, berühmt für seine bibliophilen Ausgaben, bringt den Erstling des Unbekannten gleich in drei verschiedenen Einbänden heraus: in Broschur, im Pappband und luxuriös in Leder gebunden. Doch der Einsatz verpufft. Das Buch wird ein katastrophaler Misserfolg, der erste. Von 1300 Exemplaren sind im Frühjahr 1905 lediglich 47 verkauft. Später geht die Auflage in den Ramsch (heute ist diese Erstausgabe, falls sie mal im Antiquariat auftaucht, nur für eine horrend hohe Summe zu haben).

Erst Walsers Wechsel nach Berlin, wo der gedemütigte Autor als Kommis zwischen 1905 und 1913 lebt, bringt die Erlösung. Er schreibt hintereinander drei Romane, die den Durchbruch schaffen: »Geschwister Tanner«, »Der Gehülfe« und »Jakob von Gunten«. Hier, in Berlin, hat Walser seine beste Zeit. Er schreibt ohne Unterlass, verlegt sich nun auf kurze Prosa, schreibt Etüden, Dramolette, Skizzen, Feuilletons, Glossen, zarte, anmutige, federleichte Gebilde, Dichtungen eines Verweigerers, der vom Leben, wie er sagt, nichts erwartet und nichts verlangt.

Aber bald darauf geht's schon wieder bergab. Romanprojekte zerschlagen sich, der Verleger stellt die Zahlungen ein, wieder bleibt nur die Flucht, diesmal zurück in die Schweiz. Dann, 1925, bei Rowohlt ein letztes Bändchen mit Erzählstücken, vier Jahre später, nach Krisen und Angstzuständen, die Einweisung in eine Heilanstalt bei Bern. Walser gilt nun als schizophren. Später, als er schon ein paar Jahre in Herisau verbracht hat, wird er Carl Seelig auf einer seiner Wanderungen bekennen: »So habe ich mein eigenes Leben gelebt, an der Peripherie der bürgerlichen Existenzen, und war es nicht gut so?«

Fantastisch das Bildmaterial, das Bernhard Echte hier um die wenigen Walser-Ansichten gruppiert und zu einer großartigen Chronik fügt. Bewundernswert freilich auch, wie er Fotos, Zeichnungen, Handschriften, Meldebogen, Protokolle, Anzeigen, Preislisten, Porträts mit Sätzen aus Werken und Briefen des Autors kommentiert, mit Urteilen der Zeitgenossen oder amtlichen Schriftstücken. Anschaulicher und authentischer kann man diesen Dichter nicht haben.

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