Was schwabbelt, ist Fett

Warum die meisten Menschen abnehmen wollen, es aber nicht schaffen

  • Simone Schmollack
  • Lesedauer: 8 Min.

Wenn die Deutschen mal nicht um ihre Ersparnisse oder um ihren Job bangen, machen sie sich Gedanken um ihr Gewicht. Bin ich zu dick? Das fragen vor allem Frauen, die die 40 überschritten haben. Seit dem »Geheimen Tagebuch der Carla Bruni« ist es amtlich: Ab 40 nimmt jede Frau aller drei Jahre ein Kilo zu. Sie kann machen, was sie will. Das ist ein Naturgesetz, sagt die französische Präsidentengattin. Sie weiß das ganz genau, früher war sie nämlich mal Model, und heute ist sie auch schon 41. Bin ich zu dick, fragen auch jede Menge (weibliche) Teenager, obwohl die von den schweren 40 noch viele Jahrzehnte entfernt sind. Damit aber noch nicht genug. Seh ich dick darin aus?, fragen jetzt schon Bücher mit Geschichten von Frauen, die denken, dass sie unförmig aussehen, worin auch immer. Diätratgeber gibt es ohnehin so viele, dass man automatisch zunimmt, frisst man sich durch sie hindurch wie ein Bücherwurm. Und nicht zu vergessen all die Trennkost-, Low fat-, Weight Watchers- und FDH-Tipps in Frauen- und Haushaltsmagazinen.

Ja, gibt es denn niemanden mehr, der sagt: Iss, was dir schmeckt, genieße! Böhmischer Sauerbraten mit Knödeln darf sein, nun nicht täglich, aber hin und wieder. Auch mal ein Stück Nougattorte ist erlaubt, man muss nicht immer an der Möhre nagen.

Weihnachten wird an vielen deutschen Tischen sicher wieder so ablaufen: Für mich bitte kein Fleisch, das enthält zu viele Kalorien und zu viel Cholesterin. Nur ein wenig Rotkraut, das ist doch hoffentlich ohne Butterschmalz zubereitet? Nur einen halben Kloß, und auf keinen Fall Soße. Wem macht das denn Spaß?

Niemandem. Das sagt auch Gunter Frank. Er muss es wissen, als Arzt berät er Menschen mit Gewichtsproblemen. Vor Kurzem hat der Heidelberger ein Buch veröffentlicht: »Die Lizenz zum Essen. Warum Ihr Gewicht mehr mit Stress zu tun hat als mit dem, was Sie essen.« Die Quintessenz dieser Schrift könnte man wie folgt zusammenfassen: Die gesamte Gewichts- und Diäthysterie hat zur Folge, dass niemand mehr isst, worauf er Appetit hat, sondern nur noch das, was als fett- und kalorienarm und gesund gilt. Trotzdem plagt einen bei jedem Bissen das schlechte Gewissen. Und das schadet der Gesundheit am Ende mehr als eine deftige Erbsensuppe mit Speck und Bockwurst.

Gunter Frank sagt sogar: Wer mit Genuss isst, nimmt ab, mindestens eine Kleidergröße. Das ist zwar nicht sonderlich glaubwürdig, aber Gunter Frank hat es in seiner Sprechstunde angeblich beobachtet. Die meisten Patienten, die zu ihm kommen, wollen dünner werden. Sie wissen allerdings nicht, wie sie das anstellen sollen. Seit Jahren versagen sie sich jeglichen kulinarischen Genuss – und damit sicher auch noch die einen oder anderen Gelüste. Und nehmen trotzdem nicht ab. Im Gegenteil, manche nehmen sogar zu. Andere Patienten wollen von Dr. Frank hören, wie sie dicker werden, ohne sich zu quälen (ja auch das gibt es).

Der Schlüssel zum unterschiedlichen Verhältnis von Mensch und Fett liegt in jedem Körper selbst. Es gibt verschiedene Körpertypen: die Pykniker, die Leptosomen und die Athleten. Die ersten sind mollig, die anderen hager und die letzten muskulös. So weit, so gut, das lernt man heute sogar in der Schule. Und weil jeder Mensch anders ist, kann man auch nicht einfach sagen: Wer 1,70 Meter groß ist, darf 70 Kilo wiegen, um gesund und ausreichend schlank zu sein. Wer 72 Kilo wiegt, muss unbedingt an sich arbeiten. Deswegen wurde der BMI entwickelt, der Body-Maß-Index. Der berechnet sich aus dem Körpergewicht in Kilo durch die Körpergröße in Meter zum Quadrat. Heraus kommt idealerweise ein Zahl zwischen 18 und 25. Das ist das Normalgewicht. Es beinhaltet zum Beispiel die Spanne von 50 bis 68 Kilo bei einer Größe von 1,65. Wer also einen BMI von 22 hat, kann am Weihnachtsabend ganz beruhigt die Gänsekeule mit zwei Klößen und viel Soße essen, er ist nämlich normal schwer. Wer einen BMI von 17 errechnet hat, sollte gleich zweimal essen, er hat nämlich Untergewicht. Und bei wem über 30 rausgekommen ist, leidet schon an Adipositas Stufe 1, der Fettleibigkeit ersten Grades. Die Skala ist nach oben offen.

In einer Grafik zeigt der 45-jährige Arzt, der im Übrigen sehr schlank ist, wie es sich mit den Fettanteilen in der Bevölkerung verhält. Die meisten Menschen verfügen über mehr oder weniger Fettdepots, und nur wenige sind entweder schlaksig oder pummelig. Frank zieht das Fazit, dass ein bisschen rund vielleicht nicht unbedingt dem Schönheitsideal der Hochglanzmagazine und der Filmindustrie entspricht, aber durchaus normal und gesund ist. Und seit Kurzem gibt es dafür auch einen wissenschaftlichen Beleg: Wer nicht ganz dünn, aber auch nicht fett ist, der lebt am längsten. Das haben Wissenschaftler in Amerika entdeckt. In Potsdam-Rehbrücke, wo sich das Deutsche Institut für Ernährungsforschung befindet, haben Forscher vor Kurzem bei Mäuseversuchen ein mutiertes Gen entdeckt, das vor Übergewicht schützt. Bei wem also dieses »Fettverbrennungsgen« mutiert, der kann so viel und so fett essen, wie er will, und bleibt trotzdem schlank. Die Muskeln, die auch Fett als Energiequelle brauchen, sollen dann verstärkt den Glukosehaushalt anzapfen.

Überhaupt besitzt der Körper eine Art Messinstrument, mit dem er sein Gewicht auf die Kilozahl einpendelt, mit der er am besten funktioniert. Wer versucht, dieses Gewicht dauerhaft zu unterschreiten, wird selten Erfolg haben. Er wird sich nur ärgern, weil er hungert und hungert und trotzdem nicht abnimmt. Bekommt der Körper weniger Kalorien als gewöhnlich und als er braucht, signalisiert er dem Verbrennungssystem, auf Sparflamme zu arbeiten. Damit versucht der Körper, sein Wohlfühlgewicht zu halten – auf Teufel komm raus.

Es ist auch nicht so, dass Dicke immer mehr essen als Dünne, sagt Gunter Frank. Oftmals soll es umgedreht sein. In der Regel nehmen von Natur aus Dünne sogar mehr Kalorien zu sich als Dicke. Das hängt ebenfalls mit dem Verbrennungssystem zusammen. Während Dicke bei einer Mahlzeit mehr essen können, brauchen Dünne am Tage viele kleine Portionen. Insgesamt aber essen sie mehr und vor allem energiereicher. Das ist zwar ungerecht, aber offensichtlich kaum zu ändern.

Und was macht außerdem dick? Fernsehen! Wobei nicht unbedingt die Chips und die Schokolade daran schuld sein sollen, die man zum »Tatort« in sich hineinschaufelt, sondern veränderte Tag-Nacht-Gewohnheiten. Der Mensch ist dafür gemacht, am Tag, wenn es hell ist, aktiv zu sein, und in der dunklen Nacht zu ruhen. In der Nacht erholt sich der Körper nicht nur, er verdaut auch und baut Stress und Fett ab. Wenn dieser natürliche Rhythmus gestört ist und der Körper länger wach gehalten wird, hat er nicht mehr ausreichend Zeit, um Fett abzubauen. Das Fernsehflackern und das Lampenlicht sagen dem Körper, dass es Tag sei und der Körper jetzt in seiner Tagesrolle funktionieren müsse, also auf keinen Fall die Fettabbaumaschine anschmeißen darf. Das erinnert verdammt an die Diätenregel vor einigen Jahren: Schlaf dich schlank. Am besten ist, gar nicht mehr aufzustehen. Denn auch Sport hilft laut Gunter Frank beim Abnehmen überhaupt nicht.

Es ist ein Irrglaube, sagt der Mediziner, dass Fitnesstraining die Gewichtsreduktion befördert. Vom Sportplatz kehrt man höchstens froh gelaunt zurück, weil Bewegung und Schwitzen Stress abbauen und das Glückshormon Serotonin ausgestoßen wird. Überhaupt sind Joggen, Walken, Schwimmen, Radfahren nur dann gut, wenn sie wirklich Spaß machen. Sich zu quälen, sagt Gunter Frank, hat keinen Sinn. Manchmal reicht es schon, Treppen zu steigen, statt den Fahrstuhl zu nehmen, und einen Weg zu Fuß zu gehen, statt sich schnaufend über die Tartanbahn zu quälen.

Das mag ja alles gut und schön sein, und die Erkenntnisse von Gunter Frank erleichtern unbedingt das Gewissen. Trotzdem gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass Menschen heute neben ihren natürlichen Fettdepots Polster und Schwimmringe anhäufen, die schlichtweg überflüssig sind. Die Zahl wahrhafter dicker Menschen ist in Deutschland nicht eben gering. Im vergangenen Jahr ist Deutschland Europameister der Dicken geworden. Eine internationale Studie förderte zu Tage, dass drei Viertel aller Männer und die Hälfte der Frauen zu viel auf die Waage bringen. Das hat der Ernährungsbericht 2008, den die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) alle vier Jahre vorlegt, jetzt noch einmal bestätigt. Laut DGE essen die Deutschen zu viel, zu fett und zu süß. Dicke Eltern produzieren häufig dicke Kinder: 16 Prozent der deutschen Kinder haben Übergewicht.

Das weiß auch Gunter Frank, und das kritisiert er auch. Trotzdem bekommt sein Plädoyer für ein paar Pfunde mehr auf den hinteren Seiten seines Buches einen Schlag Sahne zu viel. Indem der Verfechter für das Wohlfühlgewicht immer wieder betont, dass die kleinen Sitzröllchen am Bauch nicht dramatisch sind, scheint er die wirklich Dicken zu schützen.

Wer wissen will, ob er tatsächlich zu dick ist, der mache Omas Wackeltest. Der geht so: Man stelle sich nicht auf die Waage, sondern vor den Spiegel, nackt. Und tanze den Boogie, dabei den Körper kräftig hin und her schütteln. Was dabei schwabbelt, ist Fett.

Gunter Frank: Lizenz zum Essen. Warum Ihr Gewicht mehr mit Stress zu tun hat als mit dem, was Sie essen. Piper. München, 2008. 312 Seiten, 16,90 EUR.

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