Das Radio im Kopf

Oliver Sacks: »Der einarmige Pianist ...«

  • Mona Grosche
  • Lesedauer: 3 Min.

Hatten Sie schon mal einen Ohrwurm, der Sie tagelang quälte – womöglich ein ganz und gar abstruses Lied, das Sie unwillentlich ständig vor sich hin summten? Seien Sie froh, dass Sie ihn los sind! Denn wie ein Leben aussieht, das geprägt ist von musikalischen Halluzinationen und ähnlichen Störungen, davon kann man sich in »Der einarmige Pianist« von Oliver Sacks ein umfassendes Bild machen.

Der Autor, einer der bedeutendsten Hirnforscher unserer Zeit, widmet sich hier den geheimnisvollen Wechselwirkungen zwischen dem menschlichen Hirn und dem Phänomen Musik. Die Aufnahmebereitschaft für Musik, die »Musicophilie« (so auch der englische Titel des Buches) ist für Sacks untrennbar mit der menschlichen Natur verbunden, begleitet sie die Menschheit doch mindestens ebenso lange wie die Sprache durch ihre Geschichte. In langjähriger klinischer Erfahrung hat er häufig Fälle erlebt, in denen Musik als Therapie zu erstaunlichen Erfolgen bei neurologischen Erkrankungen führte.

Auf 400 Seiten präsentiert Sacks eine unnachahmliche Mischung aus faktenreichen Informationen und Fallbeispielen. So erzählt er von der »Musicophilie« eines Chirurgen, der vom Blitz getroffen wurde – als einziger neurologischer »Schaden« bleibt nach der Genesung ein unstillbarer Hunger nach klassischer Musik, woraufhin er sich selbst das Klavierspielen und das Komponieren beibringt. Oder die ältere Dame, die beim Klang neapolitanischer Lieder epileptische Anfälle bekommt. Oder der Komponist, der durch ein »Radio im Kopf« pausenlos von Musikstücken in Stilrichtungen geplagt wird, die er nicht ausstehen kann ... Besonders berührend ist das Beispiel des Musikwissenschaftlers Clive Wearing. Dieser hatte sich nach Erscheinen von Oliver Sacks' Bestsellers »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte« sehr beeindruckt von der darin geschilderten Geschichte eines Seemanns gezeigt, der nur noch über wenige Minuten Speicherkapazität seines Gedächtnisses verfügte. Ironischerweise erkrankt Wearing einige Monate später an einer Hirninfektion – und verfügt danach selbst nur noch über eine Gedächtnisspanne von wenigen Sekunden. Was ihm bleibt, ist die Liebe zu seiner Frau – und seine Musikalität, die er offenbar auf der gleichen Ebene wie die Gefühle zu ihr abgespeichert hat. Sonst immer nur von Augenblick zu Augenblick existierend, kann er immer noch Klavierspielen, Singen oder ganze Stücke dirigieren und auf diese Weise für kurze Zeit als kreativer Mensch am Leben teilhaben.

Nicht nur im Falle seines Freundes Clive Wearing sind Sacks' Schilderungen von einer intensiven Beobachtungsgabe und einem tiefen menschlichen Mitempfinden geprägt. Sacks sieht seine Patienten nicht als »Fälle« oder Forschungsobjekte, sondern als ebenbürtige Partner, deren Probleme er gemeinsam mit ihnen zu lösen versucht. Dies kann bedeuten, eine Besserung oder Heilung zu erzielen. Mitunter bedeutet dies aber auch, mit den musikalischen Eigenheiten leben zu lernen. Wie Miss B. etwa, die ihre langjährigen Musik-Halluzinationen vermissen würde, sollten sie eines Tages doch verschwinden: »Wissen Sie, die Musik ist jetzt ein Teil von mir.«

Oliver Sacks: Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn. Rowohlt Verlag. 400 S., geb., 19,90 EUR.

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