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Ludwig Renn, der deutsche Bundeskanzler und das Massaker von Dinant
Jeder Schuß ein Ruß. - Jeder Stoß ein Franzos. - Auf nach Paris, uns juckt die Säbelspitze!« Das waren so Sprüche, mit denen die blumengeschmückten deutschen Soldaten in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 von ihren Müttern und Verlobten an die Züge zur Front geleitet wurden. Und wenn es bei Köln oder Koblenz über den großen Strom ging, gab's kein Halten mehr: »Lieb Vaterland magst ruhig sein, fest steht und treu die Wacht am Rhein.«
Das deutsche Kaiserreich und das habsburgische hatten sich gegenseitig in den Krieg hinein ermuntert, nun prellt Deutschland vor und erklärt am 1. und 3.August Russland und Frankreich den Krieg. Mit Hilfe eines alten Planspiels seines ehemaligen Chefs, General von Schlieffen, will der deutsche Generalstab siegen. Der hatte 1905 vorgeschlagen, Frankreich von Norden her durch Belgien hindurch überraschend anzugreifen und, ehe Russland sich besonnen habe, in Paris einzumarschieren. Hofft auch der »kleine Mann« auf leichten Sieg mit reicher Beute? Wilhelm II. schreit am Tage des Einmarschs in Belgien vom Balkon seines Berliner Stadtschlosses, er kenne keine Parteien mehr, nur noch Deutsche. Und alle jubeln ihm zu, auch alle Sozialdemokraten. Bis auf einen. Der bezahlt seinen Mut, wie den, der später dazu gehörte, eine sozialistische Republik auszurufen, mit dem Leben. Als er letzteres tat, stand er auf demselben Balkon wie der einstige, inzwischen geflüchtete Herrscher. In dessen Verantwortung waren knapp zwei Millionen deutsche Soldaten gestorben.
Der Schlieffen-Plan scheitert schon nach wenigen Tagen, nicht nur im Osten. Auch mit der selbstbewussten Haltung des kleinen Nachbarn im Westen rechnet der arrogante Kriegsplan nicht. Nachdem Belgien den gewaltigen Aufmarsch auf seinem Territorium kategorisch untersagt hatte, nehmen Belgien und auch England die eklatante Neutralitätsverletzung zum Anlass, ihrerseits Deutschland den Krieg zu erklären. So kommt es, dass einige der erbittertsten Schlachten nicht in Frankreich, sondern im belgischen Flandern stattfinden: bei Langemarck im Oktober 1914, wo die fanatisierte akademische Blüte Deutschlands hingeopfert wird, und bei Ypern im Frühjahr 1915, als die deutsche Militärführung in perfider Weise Giftgas einsetzt. Diesen Schritt bezahlen fünftausend Franzosen mit dem Leben, unzählige Gastote folgen auf beiden Seiten.
Zu den durch Belgien marschierenden Deutschen gehören auch die Soldaten der dritten, der sächsischen Armee. Deren Kommando hat der alte General von Hausen inne, ehe er nach der Marne-Schlacht, Anfang September 1914, die Befehlsgewalt an einen schneidigen Preußen abzugeben gezwungen wird. Gleiches widerfährt etwas später auch dem Kommandanten des XII. königlich sächsischen Armeekorps, General d'Elsa. - Das deutsche Kriegsglück wendet sich trotzdem nicht.
Einer der Zugführer im 1. Leibgrenadierregiment Nr. 100 des sächsischen Königs ist der 25-jährige Leutnant Arnold Vieth von Golßenau, Sohn eines Professors und Prinzenerziehers aus ältestem Adel, Freund des Kronprinzen, ehrgeizig, karrierebewusst aber auch erzogen im Geiste einer überkommenen Ritterlichkeit, die mit der »modernen« Art rücksichtsloser Kriegsführung unweigerlich kollidieren muss. Das geschieht bald. Am 22.August 1914 hat Vieths Regiment beim belgischen Städtchen Dinant das hier tief eingeschnittene Tal der Maas erreicht. Am anderen Flussufer stehen französische Einheiten, deren Befehlshaber natürlich seit langem vom deutschen »Überraschungsplan« Kenntnis haben und damit beschäftigt sind, eine tiefgestaffelte Verteidigungslinie aufzubauen. Diese Linie wird bereits am 6. September 1914, gut einen Monat nach Kriegsbeginn, hinter der Marne erreicht. Von da an geht für die deutschen Armeen im Westen praktisch nichts mehr.
Unter den deutschen Truppen in Belgien hat sich die Angst vor einem unerwarteten Feind verbreitet: Aus dem Hinterhalt kämpfen Partisanen, Franktireurs. Auch das war im Schlieffen-Plan unbeachtet geblieben: Nicht das kleine, gewissermaßen »im Vorübergehen« zu besiegende belgische Heer stellt sich in offener Feldschlacht den an Menschen und Material hoffnungslos überlegenen Deutschen, sondern die bekommen es plötzlich mit Einzelkämpfern zu tun, die, ihr Leben nicht schonend, schießend hinter den Fenstern ihrer Häuser stehen. Es ist so wie später im Zweiten Weltkrieg: Erst wird ein Land mittels einer gewaltigen Militärmaschinerie überfallen, wenn der Überfallene sich aber mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigt, kommt die selbstgerechte Empörung. Es gibt die ersten Toten dieses Feldzuges, und die sterben anders als gedacht.
Vieth von Golßenau, der ein möglichst wahrhaftiges Tagebuch über diesen Krieg führt, entschließt sich später, seine Aufzeichnungen in einen Roman zu verwandeln. Um aber den zahllosen Offiziersmemoiren nicht weitere Leutnantsabenteuer hinzuzufügen und um den alltäglichen Krieg so umfassend wie möglich zu beschreiben, erfindet er die Hauptfigur eines Gefreiten und späteren Feldwebels mit Einblick in beide Welten - die der Soldaten und die der Offiziere. Vieth von Golßenau nennt seinen Helden Ludwig Renn, und so heißt er von da an selber auch. Das Buch wird zum Weltbestseller.
Zurück nach Dinant. Die Gruppe des Gefreiten Renn ist den Steilhang zur der Maas hinabgestürmt und befindet sich vor einem Steinbruch. Von dort her hören es die Soldaten schießen. Sie sind verwirrt und ängstlich. Bald stellen sie jedoch fest, dass ihnen nicht in den Rücken geschossen wird, sondern dass sie der Echo-Schall der Salven vom französisch besetzten Ufer her irritiert. Natürlich vermuten sie Franktireurs in jedem Haus, aber die Fenster der Häuser hinter ihnen sind geschlossen, die Scheiben nicht zersplittert. Dann heißt es, aus anderen Häusern seien Schüsse gefallen. Inzwischen liegen auf der frei einsehbaren Uferstraße zahlreiche verwundete und tote deutsche Soldaten, die ahnungslos ins französische Feuer gelaufen sind. Renns Gruppe besetzt die umliegenden Häuser, man trifft auf Männer, Frauen, Kinder, auch eine sterbende alte Frau. In einem der Häuser stehen die Soldaten mehreren Männern gegenüber, die geschossen haben könnten, man findet eine Packung Munition, jedoch keine Gewehre. Während einige auf Verdacht hin für sofortige Erschießung dieser Männer plädieren, macht der Gefreite Renn den Vorschlag, die Belgier dazu zu zwingen, verwundete deutsche Soldaten von der Uferstraße weg in Deckung zu schleppen und damit die Sache auf sich beruhen zu lassen. Das geschieht. Gefreiter Renn hört zwar von standrechtlichen Erschießungen, er erlebt sie jedoch nicht selbst.
Anders Vieth von Golßenau, sein Erfinder. Ihn lässt das Geschehen am Maas-Ufer nicht los. Kurz vor seinem Tode 1979 geht er als Ludwig Renn in seinem Buch »Anstöße in meinem Leben« nochmals auf die damaligen Ereignisse ein. Tatsächlich hat der junge Leutnant vor allem am folgenden Tag, dem 23. August 1914, in Dinant viel mehr erlebt als sein Buch-Held. »Gerüchte kamen von allen Seiten: Die Belgier haben von hinten auf uns geschossen! Oben von der Burg! Auch dort drüben! Man holt alle Einwohner aus den Häusern! Auch ich ließ das tun und befahl auch eine vorläufige Verbandstelle für die vielen Verwundeten. Der Hauptmann übernahm das Kommando über die wirr durcheinandergekommenen Infanteristen aus zwei Armeekorps. Bei einem Belgier hatte man Gewehrmunition gefunden. Was tun? Der Befehl lautete: Jeden Partisanen sofort zu erschießen. War nun dieser Belgier ein Franktireur? Das war mir nicht klar, und ich wusste keinen anderen Ausweg, als ihm zu sagen: Holen Sie die Verwundeten von vorn an der Maas! Dann soll die Munition vergessen sein, die man bei Ihnen gefunden hat ... Jahre später, als man die Verbrechen der Deutschen in Belgien untersuchte, gab es einen Bericht, ein Leutnant hätte einen belgischen Zivilisten zum Verwundetentransport in die Kampflinie vorgeschickt, der dabei verwundet wurde. Man schrieb mir von der deutschen Kriegsgeschichtsabteilung, ob ich etwas davon wüsste. Ich antwortete: Ja, der Leutnant wäre sicher ich, und ich wäre bereit, vor einem Gericht zu erscheinen und meine Schuld einzugestehen. Der untersuchende Militärhistoriker hatte nun selbst bei unserem Regiment gestanden und kannte mich gut. Er oder andre haben den Fall vertuscht ...
Links loderten die Flammen aus den hier sehr kleinen, armen Häusern. Dächer stürzten ein. Es krachte, aber nicht mehr vom Schießen. Als wir kurz vor der Stelle ankamen, wo die Pontons heruntergetragen worden waren und nun die Pioniere pausenlos Soldaten hinüberruderten, saß mitten auf der Straße unser Brigadeführer, General Lucius, auf einem Stuhl, die Lehne zwischen den Beinen. Er starrte in die zuckend von Bränden erleuchtete Dunkelheit. Er war es, der den Befehl zu Massenerschießungen gegeben hatte ...
Während wir in einen Baumgarten rückten und dort die Gewehre zu Pyramiden zusammensetzten, um aus der Feldküche zu essen, erschien auch der Kommandierende General d'Elsa. Sein jüngerer Sohn, der bei unserer Kompanie als Fähnrich war, lief zu ihm und schien ihm Fröhliches zu erzählen. Ich aber sah an einem Mäuerchen, halb im Dunkeln, von den Flammen unruhig beleuchtet, einen Menschenhaufen liegen. Soweit ich erkennen konnte, mussten es Erschossene sein, Männer, Frauen und Kinder, wirr durcheinander. Mir schien, dass einige nicht tot waren, sondern sich im Leichenhaufen bewegten. Daran vorbei gingen unsre Grenadiere, in der Hand die Deckel ihrer Feldkessel, in die sie von den Köchen einen Schlag Essen bekamen ...
Im Sommer 1916 sah ich Dinant wieder. Die Sonne schien wie das letzte Mal. Von den Straßen war der Schutt geräumt, aber sonst sah noch alles aus, wie am Abend der Schlacht. Ich schritt den Weg ab, den ich 1914 vom Steilhang zur Maas gegangen war. Dabei machte ich mir eine Skizze vom Straßenverlauf und fotografierte einige Stellen. Vor allem untersuchte ich die Spuren der Einschläge von Infanteriegeschossen an den Mauern. Die Schüsse waren eindeutig vom andern Ufer gekommen - soweit sie nicht von unserm wilden Panikschießen herstammten. Nichts deutete darauf, dass Belgier von hinten auf uns geschossen hätten. Nun hatten viele mit Bestimmtheit behauptet, wir Deutschen wären vom festen Schloss aus beschossen worden. Das ragte auf einer fast senkrechten Felswand hoch über der Stadt. Ich stieg also da hinauf und fand, es war ein Museum mit wenigen unbedeutenden Schaustücken. Von einem Fenster aus versuchte ich, nach der eng gedrängten Stadt hinunterzusehen, sah aber nur Dächer. Von hier aus war es geradezu unmöglich, auf Soldaten in den Gassen zu schießen. Also hatten auch hier die deutschen Soldaten in ihrem Schrecken gemeint, das scharfe Knallen hinter ihnen wären Abschüsse, während es in Wirklichkeit Einschläge des Schießens vom andern Flussufer waren. Das hatte noch niemand zugegeben ... Wegen der Behauptung, von heimtückischen Belgiern beschossen zu sein, hatten General Lucius und andere belgische Zivilisten zusammengetrieben und in Massen erschießen lassen, Männer und Frauen. Damals hatte ich geglaubt - oder halb geglaubt -, wir wären im Recht.«
Als »Krieg« erschien, hatte der ehemalige Weltkriegsoffizier Vieth von Golßenau als Polizeihauptmann seinen Dienst seit langem quittiert, er hatte als Kunsthändler und später auf dem Lande gearbeitet, hatte studiert, zuletzt in München, war zwei Jahre zu Fuß im Orient unterwegs gewesen, hatte die verschiedensten religiösen und politischen Richtungen studiert. Jetzt war er im Begriff, der Kommunistischen Partei beizutreten. Seine Ansichten über die alte Armee fielen inzwischen sehr viel kritischer aus als einst, drei Wochen nach Kriegsbeginn.
Bei dem Massaker in Dinant sind 674Menschen einer menschenverachtenden deutschen Hysterie zum Opfer gefallen, unschuldige Bürger, niemand den Franktireurs zuzurechnen und somit auch in keinerlei Kriegshandlungen verwickelt.
In seinem Grußwort für eine Gedenkfeier am 6. Mai 2001 in Dinant schreibt der deutsche Botschafter in Belgien, Peter von Butler: »In Dinant mahnen und erinnern zahlreiche Denkmäler daran, dass durch deutsche Truppen 1914 unfassbare Gräuel an der Dinanteser Bevölkerung begangen wurden. Auch heute, fast 90 Jahre später, stellt sich für viele noch die Frage, warum es in unserem Nachbarland Belgien noch immer diese offene Wunde der Geschichte gibt. Die Antwort ist einfach: Deutschland hat sich bisher nicht zu dieser Schuld bekannt. Unmittelbar nach 1918 versuchte man, sich zu rechtfertigen. Später - in der Zeit des Nationalsozialismus - war eine Anerkennung der Kriegsverbrechen nicht denkbar. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zunächst andere Prioritäten gewählt. Es ist ein besonderes Privileg unserer Generation, zu Beginn des neuen Jahrtausends, nun endlich diese Schuld abzutragen ... Ich weiß, dass es relativ leicht ist, um Vergebung zu bitten, dass es aber viel schmerzlicher ist, Vergebung zu gewähren. Deshalb habe ich großen Respekt besonders gegenüber denjenigen, die noch persönlichen Schmerz empfinden, wenn sie an den 23. August 1914 erinnert werden.«
Nach den verdienstvollen, sicher auch zweckbestimmten Aussöhnungsinitiativen Adenauers in Richtung Frankreich und Brandts in Richtung Polen, machte sich für die erwähnte Feier im Mai 2001 ein parlamentarischer Staatssekretär im SPD-geführten Verteidigungsministerium auf den Weg, die Ehre dieser Jubelpartei von 1914 und auch die Ehre von allen Deutschen in Dinant wiederherzustellen. Zwar bedurfte es dafür langer und intensiver Bemühungen seitens des Bürgermeisters von Dinant, und auch jener Umstand tat ein Übriges, dass bis zu diesem Tag die schwarz-rot-goldene Flagge als einzige EU-Fahne nicht auf der Europa-Brücke »Charles de Gaulle« über die Maas wehte. Dem Staatssekretär Walter Kolbow gebührt für seinen längst überfälligen Schritt eines Schuldeingeständnisses und der offiziellen Bitte um Versöhnung Dank.
Zu fordern bleibt jedoch, dass 2004, im neunzigsten Jahr der Erinnerung an die deutschen Gräueltaten in Belgien, der deutsche Bundeskanzler selbst - wer immer dann dieses Amt innehaben wird - dem Wunsch der Einwohner von Dinant folgt und diesen Versöhnungsschritt in angemessenem Rahmen tut. Es will scheinen, dass es, neben der viele Gemüter heftig bewegenden Frage nach der unbezweifelbaren Schuld der SED gegenüber zahlreichen eigenen Landsleuten, noch immer von Norwegen bis Griechenland, vom republikanischen Spanien bis Russland zahllose Ereignisse gibt, die unserer deutschen Bitte um Vergebung an die überlebenden Betroffenen und die Nachfahren der Toten bedürfen. Es wäre gut, wenn die Verantwortlichen auch dafür ein mindestens gleichstarkes Engagement wie im anderen Falle entwickelten.
Der Autor dieses Beitrags ist Herausgeber einer Werkausgabe von Ludwig Renn im Verlag Das Neue Berlin. Entsprechend den Erstausgaben sind erschienen: »Adel im Untergang« und, in angepasster Ausstattung im Eulenspiegel-Verlag, »Nobi«. In diesen Tagen erschien »Krieg«, im Herbst folgen »Nachkrieg« und »Trini«. Für das nächste Frühjahr ist eine zweibändige, ungekürzte Fassung von »Der Spanische Krieg« geplant. Günther Drommer...
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