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Sklavenarbeit für Stalin

»Das Grab in der Steppe« – Die Geschichte eines Gulag: Karlag in Kasachstan

  • Günter Rosenfeld
  • Lesedauer: 4 Min.

Als Alexander Solshenizyn, in den Jahren 1945 bis 1953 selbst Lagerhäftling, im Westen seine in der UdSSR auf dem Index stehende dreibändige literarisch-dokumentarische Darstellung »Der Archipel GULag« (1973-1975) veröffentlichte, wurde die internationale Öffentlichkeit ausführlicher mit den sowjetischen Straflagern und ihren unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen bekannt. Informationen darüber waren zwar schon seit den 30er Jahren durch Mitteilungen ehemaliger Häftlinge durchgesickert. Doch wusste man bis zum Ende der Sowjetunion immer noch wenig über die grausame Inhaftierung von Menschen, vornehmlich von Sowjetbürgern, deren Anfänge auf den Sommer 1918 zurückgehen. Damals hatte die Sowjetregierung begonnen, als »Volksfeinde« bezeichnete Personen in Lagern zu inhaftieren, denen man alsbald die Bezeichnung »Besserungsarbeitslager« verlieh.

Von weittragender Auswirkung waren dann die Stalinsche Zwangskollektivierung und das Programm der 1928 begonnenen Fünfjahrpläne, für die man billige Sklavenarbeit benötigte. Bereits 1930 wurde bei der Geheimpolizei (OGPU, ab 1954 KGB) eine Hauptverwaltung der ihr unterstellten Straflager (Glawnoje Uprawlenije Lagerjej, abgekürzt GULag) geschaffen. 1934 erfolgte deren Unterstellung unter das Volkskommissariat des Innern (NKWD), in das auch die Geheimpolizei eingegliedert wurde. Das Wort »Gulag« avancierte bald zum Synonym für die Lager und Gefängnisse des Repressionsapparates.

Der Zusammenbruch der UdSSR und die Öffnung der bisher verschlossenen sowjetischen Archive machte eine ausführlichere Erforschung auch der Entstehung und Entwicklung der sowjetischen Straflager möglich. Ein 1998 in Moskau veröffentlichtes Nachschlagewerk über das System der »Besserungsarbeitslager« der UdSSR listet 476 große Lagerkomplexe auf, zu denen tausende Haupt- und Nebenlager gehörten und die wie ein Netz die gesamte UdSSR bis zum Fernen Osten hin überzogen.

Die Forschung nennt 15 bis 18 Millionen Menschen, die diesen Lagern vom Anfang der 20er bis zum Ende der 50er Jahre als Häftlinge zugeführt wurden. Infolge der fortwährenden Fluktuation, einschließlich bis zu etwa drei Millionen in den Lagern Verstorbener, schwankt die Zahl der Menschen, die ständig im Gulag inhaftiert waren, zwischen 179 000 Anfang 1930 und 2,75 Millionen Anfang 1953. Nicht gerechnet sind die etwa nochmals 2,75 Millionen Menschen in Spezialsiedlungen.

Wladislaw Hedeler (geb. 1953) und Meinhard Stark (geb. 1955), Autoren beachtlicher Publikationen über die Geschichte des stalinistischen Terrors in der UdSSR, haben nun durch ihr Buch über das in Kasachstan gelegene sowjetische »Besserungsarbeitslager«, bekannt als Karlag, die Literatur über diese düstere Seite der Geschichte der UdSSR wesentlich erweitert. Sie recherchierten in zentralen Archiven in Moskau und vor allem im Archiv des Karlag in Karaganda. Etwa 60 000 überlieferte Häftlingsakten, darunter von ausländischen Gefangenen, haben sie eingesehen.

Die von der Lagerbürokratie geführten Dossiers enthielten durchschnittlich zwischen 20 und 80 Blatt; bei 40 Prozent der Akten war ein Haftfoto begelegt. Zudem befragten die beiden Autoren 49 Frauen und Männer, die zwischen 1936 und 1956 im Karlag inhaftiert waren, und werteten weiterhin 14 schriftliche, meist unveröffentlichte Berichte ehemaliger Häftlinge aus. In beeindruckender Detailliertheit informieren sie über Lageralltag, Zwangsarbeit, Hunger und Sterben im Lager, aber auch Durchhaltewillen und Überleben.

Der von 1930 bis 1959 bestehende riesige Lagerkomplex in der Steppe südwestlich von Karaganda diente dazu, mit billiger Häftlingsarbeit große Flächen für Vieh- und Agrarwirtschaft urbar zu machen – zur Versorgung der Bergarbeiterstadt Karaganda und darüber hinaus, vom Eigenbedarf abgesehen, anderer »Besserungsarbeitslager«. Doch wie auch in anderen Straflagern war im Karlag die auf Sklavenarbeit basierende Arbeitsproduktivität gering.

Die Gesamtzahl der hier inhaftierten Menschen wird auf 800 000 beziffert. Von ihnen starben mehr als 38 000, etwa 40 Prozent allein in den Jahren des Krieges 1941 bis 1945. Die Häftlinge gehörten 45 Nationalitäten an, 57 Prozent waren Russen (1940). Allein im Jahre 1950 wurden im Karlag 1049 Kinder geboren, die man bald nach der Geburt den Müttern wegnahm und in ein Kinderheim brachte. Waren die im Lager herrschenden Arbeits- und Lebensbedingungen schon schrecklich genug, so wirkten die Drangsalierungen durch die Kriminellen, denen die Mehrheit der Gefangenen (die politisch Verfolgten, knapp 68 Prozent der Inhaftierten) ausgesetzt war, nicht weniger schlimm.

Sachlich, geradezu emotionslos, aber mit beeindruckender wissenschaftlicher Akribie berichten die Autoren über dieses schlimme Kapitel sowjetischer Geschichte. Man legt dieses Buch nicht ohne innere Erschütterung aus der Hand.

Wladislaw Hedeler/Meinhard Stark: Das Grab in der Steppe. Leben im Gulag: Die Geschichte eines sowjetischen »Besserungsarbeitslagers« 1930-1959. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2008. 463 S., geb., 38 EUR.

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