• 7. ND-Lesergeschichten-Wettbewerb

... bleibt hier drinnen

  • Brigitte Seifert, 14542 Werder
  • Lesedauer: 2 Min.
Eine Woche vor Gründung der DDR erblickte ich das Licht der Welt. Da ich zwei Stunden nach Mitternacht geboren wurde, wird es sich um die Beleuchtung des Kreißsaales gehandelt haben. So genau weiß ich das nicht.

Als ich meine Umwelt anfing, bewusst wahrzunehmen, fand ich alles wunderschön. Ich wurde in eine Zeit hineingeboren, in der die Menschen Frieden erlebten und ich war ein Sonnenscheinchen. Schule, Studium, Familie (Mann und drei Söhne), Beruf, Wohnung – ein erfülltes Leben! Stolz war ich darauf, so alt wie die Republik zu sein.

1989 sollte ein besonderes Jahr werden. Unser jüngster Sohn hatte sportliche Erfolge. Der mittelste Sohn feierte seine Jugendweihe. Der älteste schloss die 10. Klasse mit sehr guten Ergebnissen ab und bekam die gewünschte Lehrstelle. Ein Bulgarienurlaub sollte für die ganze Familie ein Höhepunkt sein. Die Republik wurde 40 Jahre alt und ich auch. Dass der Vortag meines Geburtstages mit einer gesellschaftlichen Veranstaltung zusammenfiel, störte mich wenig, hatte ich doch auf diese Art ein schönes Erlebnis. Nach einer Dampferfahrt gab es Unterhaltung pur. Obwohl weder mein Mann noch ich Spielchen lieben, beteiligten wir uns an einem Reimwettbewerb. »Und wer Clarissen will gewinnen, bleibt hier drinnen«, dichtete mein Mann Bezug nehmend auf die aktuelle politische Lage. Das Reimen brachte uns in den Besitz von Plüschente Clarissa. Das Tierchen befindet sich noch in unserem Besitz und erinnert an einen ereignisreichen Tag. Um Mitternacht bekam ich einen Extratanz – nun war ich 40 Jahre alt. Da ahnte ich noch nicht, dass ich in der zweiten Hälfte meines Lebens nicht mehr Bürgerin der DDR sein würde.

»Drinnen bleiben«, das wäre uns im Sommer '89 wider unserem Willen fast passiert. Bulgarien – für unsere Kinder die erste Flugreise – war lange geplant, die Anträge auf die Visen gestellt. Am Dienstag sollte die Reise losgehen, und am Sonntag hatten wir noch keinen Bescheid. Wir trauten uns nicht, auf die Post am Montag zu warten, da wir diese oft erst am späten Nachmittag erhielten. Dann würde es zu spät sein, noch etwas zu unternehmen. Also begaben wir uns direkt zur zuständigen Bezirksdirektion der Volkspolizei nach Potsdam. Ein voller Warteraum ermutigte uns nicht gerade. Als wir endlich unser Anliegen vortragen konnten, schaute uns der Beamte an, als wenn wir geradewegs zur ungarisch-österreichischen Grenze wollten. Wahrscheinlich lagen auch seine Nerven blank. Aber wir bekamen an diesem Tag die gewünschten Genehmigungen und am Montag mit der Post noch einmal. Trotz der aufgekommenen Unruhe hatten wir dann doch einen gelungenen Urlaub.
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