Gefangen im Irrsinn des Systems

In der Box des Deutschen Theaters fahnden Schauspielstudenten nach einem »Corpus Delicti«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.

Schweres Geschütz fährt Julia Zeh in ihrem ersten Theaterstück auf. Der vielfach preisgekrönten Mittdreißigerin, geboren in Bonn, derzeit freie Juristin im Havelland, merkt man an, dass sie über Völkerrecht promoviert. Denn große Fragen sind es, die »Corpus Delicti« verhandelt: an die Zukunft der Menschheit und ihre kollektive Organisationsform, den Staat. Dieser, wie ihn Regisseur Michael Schweighöfer in der Box am Deutschen Theater auf die Bühne wuchtet, befindet sich im Jahr 2058 und zeichnet sich durch Makellosigkeit aus.

Dank einer besonderen Methode sind Krankheiten ausgerottet, ist Gesundheit die Norm; wer sich ihr nicht unterwirft, ist, was als das Verwerflichste gilt: krank. So zitiert es eine Kommentatorin eingangs aus dem Kramerschen Gesundheitshandbuch von 2047 ins Mikrofon. Die elf Darsteller, Schauspielstudenten an der Universität der Künste, kleiden sich derweil öffentlich neben der weißen Aktionsfläche für ihre Rollen um. Die machen sie wohlig stöhnend zu Menschen einer gelobten Zeit Mitte des 21. Jahrhunderts, wo nichts mehr stinkt, die Natur nicht mehr vom Menschen bekämpft wird. Auch jener Kramer wird auftreten, denn es gilt Gericht zu halten über die, die gefehlt haben. Den Vater eines vernachlässigten Kinds, vordringlich aber Mia Holl.

Als Biologin hat sie die Leitlinien des omnipräsenten Systems verfochten, bis ihr Bruder Moritz zu Tode kam und der Zweifel über seine Verurteilung sie aus der Systembahn geworfen hat. Darum geht es etwas lange, wiewohl turbulente zweieinhalb Stunden. Splitter um Splitter erfährt man die Hintergründe. Während Moritz seine naturwissenschaftende Schwester verbohrt findet, ist er selbst Freidenker, Spinner, Naturmensch, den Gefühle mehr interessieren als Regeln. Das Mädchen, mit dem er sich im nicht desinfizierten Wald verabredet, ist tot, als er eintrifft, und weil in ihrem Körper sein Sperma gefunden wird, weist ihn die unfehlbare DNA-Analyse als ihren Mörder aus. So die nüchterne Logik des Tribunals. Im Gefängnis kommt es zum Tauschhandel: Er erhält von Mia den Strick, an dem er sich erhängt, und schenkt ihr dafür seine ideale Geliebte als reales Phantom. Mia will schlicht Zeit und Ruhe haben, das Schicksal ihres Bruders zu verarbeiten, doch so angekränkelt läuft sie dem Reglement des Systems zuwider, gerät in seine Mühlen.

Fortan jagen Anhörungen Verwarnungen, bis der Widersetzlichen der Prozess gemacht wird. Einfrieren auf unbestimmte Zeit lautet das Urteil, an dem Kramer maßgeblich mitwirkt. Mias Proklamationen erobern die Zeitung, und als ihr Rechtsanwalt herausfindet, dass ein anderer der Mädchenmörder war, DNA und System also geirrt haben, stürmen die zweifelnden Massen auf die Straße. Mia wird Märtyrerin und Heilige. Mit gewaltigem Aufwand an Requisiten und Spielereinsatz geht jene düster klamaukige Zukunftsvision in der Nachfolge Orwells und Kafkas über die kleine Szene. Verbale Spitzfindigkeiten fechten mit grotesken Überzeichnungen, Figuren wie drei lüsterne Bewohnerinnen in Mias Wächterhaus verkörpern Manipuliertsein, Richter mit Allonge-Perücke die unwandelbare Macht, Videos deren Überwachungsblick. Dass Ekligkeiten wie der zermanschte Fisch kaum Langzeitwirkung zeigen, ist nicht nur seit Johann Kresnik bekannt. Wenn sich am Ende alles in Party-Lächerlichkeit auflöst, geht man dennoch nachdenklich heim.

Wieder am 14. März, im Deutschen Theater, Box + Bar, Schumannstr. 13A, Mitte, Kartentelefon 28 44 12 21, Informationen unter: www.deutsches-theater.de

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal