Wie eine Gesellschaft mit Fremden umgeht

»... war ihm nicht länger zuzumuten, in der SBZ zu bleiben« / Studie über das Lager in Marienfelde

  • Andreas Heinz
  • Lesedauer: 3 Min.

Ende letzten Jahres wurden die Tore des 1953 eröffneten Notaufnahmelagers Marienfelde für immer geschlossen. Schon rund drei Monate später ist jetzt ein Büchlein erschienen, in dem die Anfangsjahre der auch »Tor zum Westen« genannten Einrichtung beleuchtet werden. Die Studie der Historikerin Elke Kimmel basiert auf rund 200 Akten aus den 1950er und 60er Jahren mit amtlichen Berichten und Beurteilungen über DDR-Flüchtlinge. »... war ihm nicht zuzumuten, länger in der SBZ zu bleiben« ist das Buch mit zahlreichen Fallbeispielen und Fotos aus dem Lagerleben überschrieben.

»Dieser Ort war die erste Anlaufstelle im Westteil Berlins für rund 1,35 Millionen Flüchtlinge und Übersiedler«, hat die Autorin recherchiert. Sie geht auch der Frage nach, welche Kriterien bei der Aufnahme und Gewährung staatlicher Hilfe eine Rolle spielten. So wollten die Behörden wissen: Hatte sich der Antragsteller in einer besonderen Zwangslage befunden, der er sich nur durch Flucht entziehen konnte? Oder gab es einen Gewissenskonflikt?

Ein Gewissensnotstand lag, so ein Beispiel, bei Fritz I. vor. Er hatte befürchtet, noch stärker vom Ministerium für Staatssicherheit unter Druck gesetzt zu werden. Der Mann wurde schon überwacht und kehrte von einem Urlaub nicht mehr in die DDR zurück. In ihrer Untersuchung analysiert Kimmel nicht nur das Handeln der Dienststellen und Politiker, sondern auch die Erfahrungen der Menschen, die dort eine erste neue Heimat fanden. Ergänzt wurde die Untersuchung aus den Beständen des Landesarchivs Berlin und herausgegeben von der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde und der Stiftung Berliner Mauer.

Die Autorin kommt zu dem guten Schluss: Wie eine Gesellschaft mit Neuankömmlingen, Fremden umgeht, wie sie sie wahrnimmt und was sie ihnen vorwirft, sagt immer auch viel darüber aus, was sie an sich selbst als fehlerhaft beurteilt. Auch erfährt man einiges darüber, an welche Fehler in der Vergangenheit diese Gesellschaft nicht denken möchte: »Geradezu prototypisch kann man dies für die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft in ihrem Umgang mit Vertriebenen und DDR-Flüchtlingen beobachten«, hat Kimmel festgestellt.

In besonderer Weise gerieten da zwei Gruppen von Flüchtlingen in den Blick, die man von behördlicher Seite als problematisch empfand: Abgelehnte Flüchtlinge und Jugendliche. »Gegenüber beiden Gruppen lassen sich auch auf Grundlage der hier erstmals ausgewerteten Bestände große Vorbehalte nachweisen. Menschen in Flüchtlingslagern oder anderen Behelfsunterkünften erinnerten die Mehrheitsgesellschaft unangenehm daran, dass der Krieg noch lange nicht vorbei war«, schreibt Kimmel. Sie legt den Finger in die Wunde: »Nicht selten unterstellte man, dass ihre Fluchtmotive eher marginal gewesen seien und man es eigentlich mit Menschen zu tun habe, die leichtfertig ihren Wohnort gewechselt hätten, um ein angenehmeres Leben zu führen.« Dieses Büchlein zu erwerben, lohnt sich nicht nur, weil es die Geschichte des Lagers an Hand von Dokumenten unaufgeregt darstellt. Es tut auch gut, dass die Wissenschaftlerin die Geschichten durchleuchtet und das Geschehene nicht unreflektiert weitergibt.

Elke Kimmel: »... war ihm nicht zuzumuten, länger in der SBZ zu bleiben«, 116 Seiten, 14 Euro, Metropol-Verlag, ND-Buchservice: Telefon 2978-1777

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